Manche Erinnerungen suchen einen heim, wenn man sie am wenigsten erwartet.
Ich lebe in England, in der Nähe von Sherwood Forest. Ich bin hier verheiratet, mit dem besten Mann der Welt, und selbiger hat mich gerade in den Arm genommen, um mir zu gratulieren. Warum? Ich bin Ghostwriterin und habe heute früh ein Traumprojekt an Land gezogen. Warum also kommt diese Erinnerung ausgerechnet jetzt hoch? Ich sollte glücklich durch die Wohnung tanzen und fröhlich vor mich hinträllern. Stattdessen denke ich an Mark, meinen Ex. Ich sehe mich selbst, wie ich vor mein Handy anstarre. Unsicher, was ich tun soll. Und es dann wieder an mein Ohr halte. Doch da ist nichts, außer dem lauten Ticken von Marks alter Standuhr, und dem gelegentlichen Heulen von Polizeisirenen im Hintergrund.
Ich hatte mit Mark eine Fernbeziehung geführt. In Houston, wo er lebte, war das Heulen von Polizeisirenen wesentlich weniger seltsam als das Ticken alter Standuhren. Doch beides hätte mich in dem Moment egal sein sollen, denn eigentlich waren wir gerade dabei gewesen, seinen Umzug nach Österreich zu planen.
Eigentlich.
Denn kurz vor der Szene mit dem Handy war die Verbindung plötzlich abgebrochen. Das hatte ich zumindest gedacht, bis mir sowohl das Ticken der Standuhr und die Polizeisirenen aufgefallen waren. Diese waren es auch, die mich davon abgehalten hatten, aufzulegen. Weil ich entgegen aller Instinkte fest daran hatte glauben wollen, dass er wieder zurückkommen würde.
Ich hole tief Luft und schließe die Augen. Ich möchte nicht mehr daran denken. Nicht hier. Nicht jetzt.
Ich hatte eigentlich geglaubt, diesen Moment endlich hinter mir gelassen zu haben. Diesen Moment, und die direkt darauffolgenden Wochen. Ich selbst hatte wegen Corona damals nicht in die USA fliegen können. Und die Polizei vor Ort wollte zunächst nicht helfen. Aber irgendwann hatten die schwarzen Fliegen am Fenster wohl eine allzu deutliche Sprache gesprochen. Und ich meine Antwort bekommen.
Noch einmal hole ich tief Luft und schlucke den Knoten in meinem Hals hinunter.
Dass mein geliebter Mark innerhalb von Sekunden aus meinen Leben gerissen worden war, hatte mir buchstäblich den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich brauchte fast zwei Jahre, um sowohl psychisch als auch finanziell wieder auf die Beine zu kommen. Mir als Ghostwritern ein neues Leben aufzubauen. Und mich neuer Liebe zu öffnen.
In diesem Moment dämmert es mir. Die Erinnerung schmerzt, aber sie zeigt mir auch, wie weit ich seit diesen schlimmen Wochen gekommen bin. Dass das Leben in der Tat nach jedem Schicksalsschlag weitergeht, nicht selten sogar schöner als vorher.
Ein letztes Mal hole ich tief Luft und kuschle mich tief in die Arme meines Mannes. Und schaffe es endlich, die Erinnerung loszulassen.
© Hiltrud Littlehales 2024-01-29