Gestrandet bei Osten Wind

Erik Hauth

von Erik Hauth

Story
Ostsee

Seit Tagen schon drückte ein strenger Ostwind das Wasser der Ostsee in die Förde. Die Mole des kleinen Hafens an der Nordküste hielt seit hundert Jahren dem wütenden Schlagen der Wellen stand, doch die Gischt peitschte über ihren Rand, als wolle sie noch einen letzten Angriff wagen.

Wie jeden Abend, pünktlich zum Sonnenuntergang, machte sich Thieß, der Hafenmeister, auf den Weg, um die drei Flaggen am Südende der Mole einzuholen – nur um sie am nächsten Morgen wieder zu hissen, Sysiphos gleich. Erst die des Landes, dann die der Provinz, zuletzt die des kleinen Ortes. Diese erneuerte er oft, damit sie stets sauber und unzerrissen im Wind wehte. Ein Zeichen des Respekts vor den Seeleuten, die nach einer harten Überfahrt zum Einklarieren den Hafen ansteuerten.

Thieß, von den Freunden „Hauke“ genannt (warum, wusste keiner mehr so recht), hielt nicht viel von Nationalstolz. Große Ambitionen, Prahlerei? Das war nichts für ihn.

Mit geübten Schritten huschte er unter einer Gischtwolke hindurch, als ein später Gast die Hafeneinfahrt nahm. Die Segelyacht wurde von den aufgestauten Wellen hin und her geworfen, der Skipper kämpfte, um das Boot durch die schmale Passage zu bringen. Wie ein Betrunkener torkelte es von einer Seite zur anderen, bis eine gewaltige Welle es in den Hafen spülte. Augenblicklich beruhigte sich das Boot, und der Steuermann atmete erleichtert auf.

Thieß, die Flaggen unterm Arm, winkte dem Fremden unter der schweren Ölzeugkapuze zu und wies auf einen freien Platz am Steg. Wer da genau kam, konnte er nicht erkennen. Auch nicht, dass dieser Gast, ein sogenannter Liveaboard, länger bleiben würde – einer von denen, die ihr Leben auf See führen, Nomaden des Wassers.

Noch ahnungslos schlug Thieß seinen Kragen hoch und marschierte entspannt Richtung Büro. Es war dunkel geworden, und die Kälte der Frühlingsnacht legte sich auf den kleinen Hafen.

Der Segler hatte seine schwedische Yacht festgemacht, die Leinen überprüft und den Landstrom angeschlossen. Unter Deck strömte die wohlige Wärme des Konvektors, während er sich ein Anlegebier aufmachte. Mit dem ersten Schluck spülte er das Salz aus seinem Bart, lehnte sich in der Kajüte zurück und blickte auf das Dorf. Morgen, dachte er, würde er sich wieder um seine Sorgen in der großen Stadt kümmern. Aber heute nicht. Müde kroch er in die Koje – und fiel binnen fünf Minuten in einen klammen Schlaf.


© Erik Hauth 2024-10-02

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Abenteuerlich, Inspiring, Funny
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