von Lorenz Graf
Fast überfallsartig waren die dunklen Wolken aufgezogen. Mit ungewöhnlicher Schnelligkeit hatte sich der Himmel verdunkelt, Blitze zuckten und es begann heftigst zu regnen. Dann war es direkt über uns, das Gewitter. Es blitzte und donnerte pausenlos.
Eine Gruppe Wanderer saßen gut gelaunt an dem großen Tisch in der Schutzhütte. Sie wollten über Nacht bleiben. Auch einige Tagesgäste, meine Frau und ich mit unseren Kindern saßen beim Tisch. Meine Gattin war die Hüttenwirtin in dieser Hütte auf knapp 1000 Meter Seehöhe im Norden Österreichs. Als zum wiederholten Male nach einem grellen Blitz sofort ein lauter Donnerknall folgte, bekamen es einige Gäste mit der Angst zu tun. Die Hütte lag ja ganz oben auf dem Berg und weit und breit war kein anderes Haus.
„Das ist jetzt deine Stunde“, dachte ich mir. „Du musst als Hüttenwirt deine Gäste beruhigen.“ Ich tat, was ich konnte. Ich erklärte ihnen, dass wir hier durch hohe Bäume vor Blitzeinschlägen gut geschützt seien. Dann erzählte ich, dass es die Hütte schon seit über 50 Jahren gibt und es noch nie einen Blitzeinschlag gab. Wir wären hier ganz sicher. Sie bräuchten sich nicht zu fürchten.
Ein Blitz und ein lauter Knall waren die Antwort der Naturgewalten auf meine Erzählungen. Was dann geschah, ließ auch mich zusammenfahren. Die Abdeckungen an den Verzweigungen der frei liegenden elektrischen Leitungen flogen durch den Raum, ebenso die Verkleidungen an den Schaltern und Steckdosen, die oberflächlich angebracht waren. Der Telefonapparat fiel mit lautem Klingeln von der Theke, Gläser klirrten und aus der Kaffeemaschine stieg Rauch. Das Summen des Bierkühlers war verstummt und es war finster in ganzen Haus.
Auf die Schockstille folgte aufgeregtes Reden und Rufen. Ich versuchte zu beruhigen so gut es ging und meine liebe Gattin brachte Kerzen. Ich nickte meinem 14-jährigen Sohn zu. Er erhob sich. Schweigend holte er seine Taschenlampe und ich einen Feuerlöscher. So ausgerüstet durchsuchten wir die ganze Hütte, leuchteten in jede Ecke und in jeden Winkel, rochen immer wieder, ob wir Brandgeruch wahrnehmen würden. Die Schutzhütte war ja größtenteils aus Holz gebaut. Mehrmals stiegen wir vom Keller hinauf bis in den Dachboden und wieder zurück. Welch ein Glück! Wie konnten kein Feuer entdecken.
Die Gäste beruhigten sich und auch der Himmel hatte sich ausgetobt und beruhigt. Wir suchten dann auch draußen nach Schäden. Nichts Auffälliges war zu sehen. Später stellte sich heraus, dass in den eisernen Fahnenmast neben der Hütte ein Blitz eingeschlagen hatte. Nennenswerte Schäden waren nicht entstanden und die kaputten Geräte wurden ja ersetzt.
Alles war gut. Fast alles. Denn mir hat man nicht mehr alles geglaubt, was ich so als alter Hüttenwirt erzählte. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ein Blitz sich nicht an das hielt, was seine Vorgänger 50 Jahre lang taten, nämlich anderswo auf die Erde niedersausen.
Ich musste mein Image und meine Glaubwürdigkeit wieder mühsam aufbauen.
© Lorenz Graf 2023-01-06