von Michael Pommer
Die ersten Sonnenstrahlen lassen sich durch die Gitterstäbe der Fenster blicken. Es ist kurz vor 5 und mittlerweile kann ich auch um diese Zeit bereits voller Elan in den Tag starten. Es braucht keinen Gong mehr. Der Anblick des Sonnenaufgangs gibt mir Kraft. Jedes Mal aufs neue interpretiere ich ihn als einen Anfang mit neuen Möglichkeiten. Ein Anfang von etwas, das ich vorher in meinem Leben so noch nicht erfahren habe. Ja, jeder Tag für sich entwickelt sich hier zu einem einzigartigen Erlebnis. So auch heute, denn bereits in Kürze werde ich den nächsten Schritt ins Ungewisse wagen.
„Wenn du wirklich herausfinden willst, wer du bist, dann nimm doch an einem Vipassana-Retreat teil,“ meinte Suraj Anfang März. Es war damals bereits das dritte Mal seit meiner Ankunft in Nepal, dass ich diese Worte von Menschen zu hören bekam, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Grund genug um dem Ganzen nachzugehen. Und heute sollte es also losgehen. Volle zehn Tage würde ich von 4 Uhr morgens bis 9 Uhr abends im Schneidersitz am Boden sitzen und mich einzig der Meditation widmen. Eine schier unlösbare Aufgabe für den instabilen, unsicheren Zappelphilipp, der ich in meinem alten Leben war. Doch für Selbstzweifel habe ich im Moment nichts übrig.
Zuversicht und auch gesunder Respekt machen sich in mir breit, als sich die Sonne nun in vollem Umfang zeigt und die vor mir liegende Hauptstadt Nepals in glänzendem Gold erstrahlen lässt. Als Draufgabe schmückt ausnahmsweise auch noch das Himalaya-Gebirge die Aussicht. Meist verliert es den Kampf gegen den Smog – nicht aber heute.
Ich habe mich auf einen neuen, unbekannten Weg eingelassen. Noch bin ich auf keiner Lichtung angelangt, auf der ich es vermag, mehr als einen sinnvollen Schritt vorherzusehen. Jetzt folgt eben der nächste. Oftmals wünsche ich mir, einen Mentor zu haben. Einen Mentor, der mir Gewissheit über die Richtigkeit meines Pfades gibt. Mir sagt, wohin das alles führt. Doch noch habe ich diesen nicht gefunden. Auch im Kloster nicht. Und so muss mein Voranschreiten behutsam sein. Ich muss mutig bleiben und Vertrauen haben.
Bis sich dieser Mentor, auf welche Art und Weise auch immer, blicken lässt, will ich weiterhin Schüler des Lebens sein. Ich denke, ich war es auch in der alten Rolle des Beobachters, doch fehlte es mir damals an Mut, Selbstvertrauen, Reife, Unabhängigkeit und noch an vielem mehr, um das in der Theorie Erkannte auch zu leben. Als Teil des Klosterlebens aber vermag ich jetzt das eine oder andere anzuwenden. Und lerne weiterhin.
So war es zum Beispiel die 4-jährige Chindo, die mir einen neuen Zugang zur Selbstständigkeit lehrte, als sie in vollkommener Ausgeglichenheit drei Stunden ihre Kutte unter eiskaltem Wasser wusch. Oder auch die älteren Nonnen, die trotz einer gesunden Distanz fähig sind, wirklich mitfühlend zu sein.
Doch diesen EINEN Mentor gibt es noch nicht. Aber wer weiß, vielleicht erwartet er mich ja bereits im Abenteuer, das nun vor mir liegt.
© Michael Pommer 2021-05-27