Gift

Manfred Voita

von Manfred Voita

Story

Ich teile meinen Arbeitsplatz mit einer Spinne. Ich pflege zumindest die Überzeugung, dass es ein beabsichtigtes Teilen ist, ein Akt der Duldung sozusagen, wenn auch nicht der Zuneigung, den ich jederzeit durch eine gewalttätige Intervention beenden könnte. Wie das bei manchen Bekanntschaften ist: Man sieht sich und vergisst es gleich wieder. Was mir bei Spinnen nicht passiert. Ich will nicht sagen, dass ich unter einer Phobie leide. Ich kann sie nur nicht ausstehen. Zu viele Beine, zu schnell, zu still…

Keine Ahnung, ob Spinnen Geräusche machen können, ich glaube, ich will das nicht wissen. Ab einer bestimmten Größe weigere ich mich, in ihre Nähe zu gehen. Das erzähle ich nicht, um mich hier selbst vorzuführen, sondern um die Bedeutung des Vorgangs noch einmal heraus zu stellen: Ich teile meinen Arbeitsplatz mit einer Spinne. Gut, sie hat sich entschlossen, ihren Lebensraum mit mir zu teilen, obwohl sie eigentlich, wie ich inzwischen nachgeschlagen habe, steinige Trockenrasen bevorzugt. Ich weiß zwar nicht genau, wo sich solche Rasen finden lassen, mein Arbeitsplatz ist aber sicher völlig rasenfrei. Hier rasen nur meine Finger über die Tastatur.

Inzwischen weiß ich, dass es sich um eine Zebraspringspinne handelt, die auch Harlekinspringspinne genannt wird. Offenbar kann ich mir nichts auf ihre Anwesenheit einbilden, denn sie wurde wegen ihrer Auffälligkeit zur Spinne des Jahres 2005 gewählt. Ich mag nicht mal daran denken, dass es Jahr für Jahr eine Spinne des Jahres gibt. Seit wann wird dieser Preis verliehen? Wie viele Arten gibt es und kommt ein Exemplar zur Preisverleihung? Meine soll zwei große Frontaugen, zwei nach vorn gerichtete Augen und je zwei Augenpaare an den Seiten des Vorderleibs besitzen – damit kann sie auch nach hinten sehen.

Jetzt, gerade jetzt, spaziert sie neben mir die Wand entlang, aufreizend langsam, ich kann den Blick nicht von ihr lassen, schreibe blind weiter, die Handelsschule war doch zu etwas gut. Man erkennt die Zebraspringspinne an den „sehr langen, schräg nach vorn gerichteten Cheliceren“ sagt Wikipedia. Ach so. Ja dann.

Moment, ich muss gerade mal abschätzen, wie weit sie von mir entfernt ist, sie kann nämlich das Zwanzigfache ihrer Körperlänge in einem Satz überwinden und mit einem Giftbiss töten. Während das Gift – bestimmt langsam und schmerzhaft – wirkt, hält sie ihr Opfer mit ihren kräftigen Beinen fest. Sie ernährt sich von Insekten – die es hier auf meinem Schreibtisch nicht gibt.

Jetzt lauert sie hinter meiner Schreibtischuhr… sie wird hier nicht genug Nahrung finden. Wölfe meiden Menschen, aber wenn sie ausgehungert sind, dann…Okay, wenn man höchstens 7 mm groß wird, dann braucht man eine Menge Gift, um einen erwachsenen Mann… andererseits ist meine Zebraspringspinne bestimmt fast einen Zentimeter groß. Ich muss jetzt aufhören, sie rennt über meinen Monitor und versucht den Cursor anzugreifen.

Danke für das Bild: https://unsplash.com/@jentheodore

© Manfred Voita 2020-08-10

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