von Beate Schilcher
Sie kann es nicht lassen. Sie hat es wieder getan. Unlängst, im Supermarkt.
Tantchen steuert ihren Einkaufswagen am Kühlregal entlang. Beim Schinken fällt ihr der Mann auf: siebzig plus, dürr, blass, stoppelbärtig, bescheiden gekleidet. Er hält eine Packung in Händen, studiert das Etikett. Dann wandert sein Blick suchend ins Kühlregal, wo unzählige weitere fleischrosa Packungen, militärisch sortiert, ihren erleuchteten Auftritt haben. Der Mann greift zu einem anderen Produkt, sinniert über dem Kleingedruckten, blickt wieder ins Regal. Er ist unschlüssig. Verloren im Schinken-Universum.
Tantchen spricht ihn an. Kann sie helfen? Fragend sein Blick, er schüttelt den Kopf, zuckt mit den Schultern. Er versteht sie nicht, und umgekehrt. Immerhin, die kurze Konversation enthüllt einen zweckdienlichen Hinweis bezüglich der Speisenwahl: Der Mann hat, abgesehen von einem allerletzten wackeren Schneidezahn, buchstäblich nichts mehr zum Beißen.
Klarer Fall für Tantchen: Zäher Rohschinken ist hier keine Option. Da muss was Weiches her. Fett soll es auch sein, denn der alte Mann ist zu dünn. Entschlossen zu helfen, greift Tantchen daher zu einem bissfreundlichen Schinkenaufschnitt, drückt ihn dem Männchen in die Hand und stellt seinen Rohschinken zurück ins Regal.
Der Alte ist baff. Augen weit aufgerissen, starrt er sie an. Dann beginnt er aufgeregt zu gestikulieren und zückt einen zellophanierten Ausweis, der bezeugt, dass er Zeitungen verkaufen darf und kein Bettler ist. Tantchen nickt und sagt, was Sache ist: Keine Zähne, kein Rohschinken. Der Mann versteht nicht. Er schnappt sich den Rohschinken, stellt den anderen zurück ins Regal. Tantchen schüttelt den Kopf, nimmt ihm den Schinken weg, gestikuliert ihrerseits und drückt ihm wieder den weichen fetten Aufschnitt in die Hand.
Was will diese Frau? Der Mann greift erneut zum Rohschinken, wedelt noch deutlicher mit seinem Ausweis. Sie nickt verständnisvoll, deutet auf seinen Mund und den weichen Aufschnitt. Nein, den will er nicht. Er will den anderen. Tantchens Kopf schüttelt ein entschiedenes Nein.
Das geht eine Weile hin und her. Schweiß steht ihm auf der Stirn. So eine ist ihm noch nie untergekommen. Demonstrativ hält er seinen rettenden Ausweis hoch und deutet heftig darauf.
Langsam hat Tantchen ein Einsehen. Ein letztes Mal nimmt sie ihm den harten Schinken weg, ersetzt ihn durch den weichen, deutet auf seinen fast zahnlosen Mund. Dann drĂĽckt sie dem Mann zehn Euro in die Hand.
Seine Augen leuchten auf. Nun, plötzlich, ist alles gut. Er lächelt. Er nickt. Er hat verstanden.
Zufrieden zieht Tantchen von dannen. Die gute Tat ist vollbracht. Jetzt kann sie ihren eigenen Einkauf zu Ende bringen. Als sie am Zahlen ist, fällt ihr Blick zurĂĽck, auf das Ende der Warteschlange. Dort steht der zahnlose Held. Er winkt ihr, stolz aufgerichtet, rotwangig, strahlend. Das pure GlĂĽck. – Neben ihm, auf dem Förderband: Mineralwasser und eine Packung Rohschinken.
© Beate Schilcher 2022-09-20