Glück und Glas

Sonja M. Winkler

von Sonja M. Winkler

Story

Die Begegnungen mit Herrn F. vom 2. Stock waren unspektakulär. Er betrat die Liftkabine und eröffnete das Gespräch. Die Themen, auch unspektakulär: die aktuelle Wetterlage, sein Schrebergartenhaus, das er mit seinem Bruder teilte, körperliche Wehwehchen, die ihm im Alter zusetzten, Erledigungen, die er sich für den jeweiligen Tag vorgenommen hatte: Apotheke, Post, Bank. Nach dem Tod seiner Frau ging er unter der Woche in ein nahegelegenes Lokal, wo es günstige Mittagsmenüs gab. Da Herr F. all diese Wege fußläufig zurücklegte, ergab es sich, dass ich ihn hin und wieder ein Stück begleitete. Ich stellte unspektakuläre Fragen, die er bereitwillig beantwortete. Und so bekam ich über die Jahre ein Bild von ihm.

Herr F. hatte Glaser gelernt und nach der Meisterprüfung zusammen mit seinem Bruder den Familienbetrieb übernommen und fortgeführt bis zur Rente. Deshalb nannten ihn auch viele Hausbewohner „den Glaser“. Seine Ehe war kinderlos geblieben, und so wurde der Betrieb nach seinem Pensionsantritt veräußert.

Wenn er von seiner Frau sprach, sagte er nie „meine“, sondern immer „die“ Frau. Sie waren ein ungleiches Paar. Sie: pummelig, Wasser in den Beinen, schwerfälliger Gang. Er bedauerte oft, dass die Frau die Wohnung kaum verlässt. Er hingegen hatte sich gut gehalten, war groß und schlank. Einmal bat er mich, sein Alter zu schätzen, und lächelte geschmeichelt, weil ich ihn für jünger hielt, als er war.

Als frischer Witwer ließ er hin und wieder Andeutungen fallen und streckte kurz seine Fühler in meine Richtung aus. Ich blieb immer freundlich, und es dauerte nicht lang, da sah man ihn in Begleitung einer um geschätzte 25 Jahre jüngeren Frau. „Die“ Freundin sei Verkäuferin in der Lugner-City, sagte er. Wenn ich die beiden einträchtig nebeneinander hertrotten sah, schien es, als seien sie nur gute Bekannte und nicht mehr.

Ich glaube, Herr F. hat die letzten Jahre glücklich zugebracht. Im Sommer sah er im Schrebergarten nach dem Rechten, erntete Gemüse, klaubte Obst. Manchmal klagte er, dass die Arbeit an ihm hängen bleibe seit dem Tod des Bruders. Er könne sich auch nicht aufraffen, Reparaturarbeiten in Angriff zu nehmen. Das Gartenhaus würde zusehends verfallen.

Er jammerte über den zu hohen Blutdruck und die Tabletten, die er schlucken musste, aber im Großen und Ganzen schien er zufrieden.

Am Christtag gehe ich hinunter zum Müllraum, um leere Glasflaschen zu entsorgen. Eine Bewohnerin der Anlage schickt sich gerade an, Küchenreste in den Biomüll zu kippen. Während Glas auf Glas fällt, klirrt und zerschellt, richtet die Frau das Wort an mich: Haben Sie schon gehört, der Herr F. ist gestorben. Ich bin fassungslos, denn ich hab‘ ihn noch unlängst auf dem Weg zur U-Bahn begleitet und ein paar Worte mit ihm gewechselt.

Am Stefanitag hängt an der Pinnwand neben den Postfächern eine Parte: Im 82. Lebensjahr hat Herr F. völlig unerwartet seine Augen geschlossen.

Die meinen hat er geöffnet fürs Unspektakuläre.

© Sonja M. Winkler 2020-12-27

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