Goldfish with a Shark Fin

Elke Sackel

von Elke Sackel

Story

Vince Pezzanitihttps://www.pinterest.at/pin/529243393718517709/

Ein kleiner Goldfisch hat sich verkleidet. Er ragt mit seiner orangeroten Haifischflosse über die Wasseroberfläche hinaus und versetzt seine Umgebung in Angst und Schrecken. Er will sich wohl einmal mächtig und bedrohlich fühlen und so seinem beschaulichen Goldfisch-Leben für kurze Zeit entkommen.

Die Zeichnung ist sehr detailgenau und sorgfältig gearbeitet. Eine Faltlinie im Papier wurde geschicktfür die Darstellung der Wasseroberfläche genutzt. Der Ausdruck des Goldfisches scheint mir sehr gelungen: ein Blick, der zwischen drohend und unsicher schwankt. Als würde der Fisch sich nicht ganz sicher sein, ob seine Maskerade funktionieren wird.

Ich habe diesmal ein Bild ausgewählt, das nicht von einem Künstler, sondern von einem Illustrator stammt, weil ich mich frage, ob diese Kategorien – Kunst, Handwerk, Illustration etc. – sinnvoll, nützlich oder sogar notwendig sind. Die grundlegenden Elemente eines Kunstwerkes sind Inhalt und Form. In diesem Fall ist beides offensichtlich gelungen: Es gibt einen klaren Inhalt und es gibt eine unmissverständliche Form. Was würde dagegen sprechen, dieses Blatt als Kunstwerk zu bezeichnen? Der Illustrator Vince Pezzaniti hat seine Idee sehr klar umgesetzt, seinem Beruf entsprechend ist das Bild „illustrativ“. Diese Bezeichnung würde so mancher Künstler als Beleidigung empfinden. Darf Kunst illustrativ sein oder nicht? War Kunst nicht immer schon erzählerisch? Was wäre daran abzulehnen? Und kann eine Illustration ihrerseits nicht auch einen künstlerischen Wert haben? Gibt es eine Hierarchie: Die Kunst steht über der Illustration, der Künstler steht über dem Illustrator. Oder umgekehrt?

Wenn man sich ein wenig länger mit Illustrationen beschäftigt, verschwimmen die Grenzen immer mehr und ebenso verschwindet meine Lust, in diesen Kategorien zu denken. Es soll übrigens eine Eigenheit des deutschen Sprachraumes sein, dass man zwischen der „freien“ und der „angewandten“ Kunst so strenge Grenzen zieht.

Seit einiger Zeit beschäftige ich mich selber wieder mit der gegenständlichen, sogenannten akademischen Zeichnung. Es macht mir unglaubliches Vergnügen, mich stundenlang auf eine Pflanze, ein Blatt oder eine Frucht zu konzentrieren und sie in einer detaillierten Zeichnung festzuhalten. Vor ein paar Tagen habe ich meiner demenzkranken Mutter eine Zeichnung von Zwiebelschalen gezeigt. Am nächsten Tag konnte sie sich nicht mehr an meinen Besuch erinnern, auch nicht an unser Gespräch oder den Ort, an dem wir gesessen sind. Aber sich erinnerte sich sofort und mit großer Freude an die Zeichnung und sie konnte mir das Bild ganz genau beschreiben.

So komme ich zurück zur Ausgangsfrage: Was würde dagegen sprechen, dieses Blatt als Kunstwerk zu bezeichnen? Ich behaupte: nichts.

© Elke Sackel 2021-02-26

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