Goldfund ohne Regenbogen

Coco

von Coco

Story

Nicolas sieht aus wie ein Kobold. Ein etwas verwahrloster Kobold. Abgewetzte Jeans, schmutziger grüner Hoodie, feuerrotes Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden ist. Dieses verfilzte Haarbüschel wippt jetzt vor uns her, während wir ihm skeptisch folgen. Der Kobold erzählt uns finstere Geschichten über das mittelalterliche Dublin, seine Hand zeigt hierhin und dorthin, er weiß zu jedem Haus, jeder Kirche und jeder Brücke eine Anekdote zu erzählen. Kein Zweifel: Der Mann kennt sich aus. Trotzdem ist es eigenartig. War es eine gute Idee, ihm zu folgen?

Es ist unser erster Urlaubstag, und wir wollten uns einfach nur gemütlich durch die Stadt treiben lassen. Doch dann kam der Kobold. Wir schlendern gerade aus einem Supermarkt, als er meinen Freund Sebastian auf sein Iron Maiden Shirt anspricht. Die beiden plaudern kurz über Musik und ich gehe schon ein paar Schritte weiter, als der Fremde fragt: „You got a little time? I would love to show you the realDublin.” Uff. Wir murmeln etwas von Plänen und Freunden, die wir später noch treffen. Er lässt nicht locker. Was wird das? Will er uns abzocken? Warten in der nächsten dunklen Gasse seine Kobold-Komplizen, um uns zu überfallen? „Was soll’s.“, sage ich nach ein paar Minuten Geplänkel. „Gehen wir ein Stück mit ihm. Wer weiß …“, zwinkere ich meinem Freund zu. „Vieleicht führt er uns ja zu seinem Topf voll Gold am Ende eines Regenbogens.“

Fünfzehn Stunden später ist Sperrstunde in Dublins Nachtleben und wir stehen mit unserem neuen Freund an einem Taxistand. Hinter uns liegt ein schillernder, aufregender, verrückter Tag, den man nicht besser hätte planen können. Mit der besten Stadtführung aller Zeiten, stundenlangen Diskussionen über Gott (ohne den geht’s in Irland nicht) und die Welt. Wir haben Tränen gelacht, halb Dublin im Vorbeigehen kennengelernt (Nicolas ist stadtbekannt) und auf einer Dachterrasse Riverdance getanzt. Und jetzt stehen wir hier, und müssen uns von unserem neuen Freund verabschieden. Mittlerweile wissen wir, dass Nicolas auf einem Hausboot wohnt, weit weg vom teuren Pflaster der Hauptstadt. Er besitzt nicht viel und trotzdem hat er heute viel Geld für uns ausgegeben, denn wir haben uns andauernd gegenseitig eingeladen. Er wollte uns nicht abzocken. Er wollte nicht mal mit seiner grandiosen Stadtführung etwas dazuverdienen (Geld hat er rigoros abgelehnt). Er wollte uns sein Dublin zeigen und Spaß haben – simple as that.

Ich umarme Nicolas und steige zu meinem Freund ins Taxi. Wir drehen uns um und winken dem immer kleiner werdenden Kobold nach. Er hebt sein Bier zum GruĂź und als das Licht einer StraĂźenlaterne darin reflektiert, sieht es fĂĽr einen Moment so aus, als hielte er ein Glas voll Gold.

© Coco 2021-03-04

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