von Sudari
Ich glaube, jeder Mensch könnte eine Geschichte erzählen, von wundersamen Fügungen, die ihn aus der einen oder anderen prekären Situation gerettet haben. Die nun folgende spielt in den späten Siebzigern, wo viele Freigeister dieser Welt auf Sinnsuche gingen und den Drang verspürten, fremde Länder kennenzulernen. So auch mein großer Bruder, der Ende 1979, dem ausgehenden Jahrzehnt der Blumenkinder, den Entschluss fasste, nach Indien zu reisen, um einen Traum zu verwirklichen, der in ihm entstand, als er durch Zufall ein Buch des indischen Meisters Sri Aurobindo in die Hände bekam. Er schrieb in diesem Buch über die 1968 gegründete “Stadt der Zukunft“ – Auroville – deren Ziel es ist, eine universelle Stadt zu sein, in der Männer und Frauen aller Länder in Frieden und Harmonie leben können, über alle Glaubensbekenntnisse, alle Politik und alle Nationalitäten hinweg. Das Matrimandir ist das Herzstück und die Seele Aurovilles, ein zentrales Kuppelgebäude, welches zur Meditation und Kontemplation dient. Dort also wollte er hin, trampte und railte sich bis Griechenland, wo er noch 3 Wochen mit Freunden verbrachte, um dann mit einem Oneway Billigticket von “Magic Bus” nach Kathmandu zu fliegen. Noch heute schwärmt er von Pokhara am Phewa-Lake mit dem Himalaya als traumhafte Kulisse. Einen Monat später flog er zurück nach Indien und es ging von Patna mit dem Zug nach Kalkutta. Als er nach 11 Stunden Fahrt dort endlich ankam, regnete es in Strömen und er fand in der 3 Millionen Stadt, die insgesamt 4 Railway Stations hat, nicht den richtigen Ticketschalter, um mit dem Zug nach Madras zu fahren. Als auch noch seine Jesus-Latschen durch den Regen aufweichten und kaputt gingen, entschied er sich doch in einen Flug zu investieren, kaufte zuerst ein paar neue Schuhe und dann ein Flugticket. Beides war nicht vorgesehen und belastete sein schmales Budget. Im Flieger saß er neben einem indischen Geschäftsmann, mit dem er bald sehr angeregt ins Gespräch kommen sollte. Es stellte sich heraus, dass dieser der Inhaber der größten Papiermühlen Fabriken Indiens war und, man kann es kaum glauben, auch noch unsere Geburtsstadt Siegen kannte. Als er erfuhr, wohin mein Bruder reisen wollte, schnippte er in typisch indischer Manier mit den Fingern und sprach mit seinem Angestellten hinter ihm. Als mein Bruder aus dem Flughafengebäude kam, empfing ihn eine schwarze Limousine, die ihn zu einem Hotel bringen sollte. Doch da sich Indira Gandhi zu diesem Zeitpunkt auf Wahlkampf Tour befand, waren alle Hotels ausgebucht. So brachte der Fahrer meinen Bruder erst einmal in ein katholisches Kloster und holte ihn am nächsten Morgen wieder ab, um ihn schließlich zum Busbahnhof zu bringen. Dankbar und glücklich verbrachte mein Bruder einen Monat in einem Ashram in Pondicherry.
Eine gute Freundin erzählte ihm nach seiner Rückkehr, dass sie gespürt hat, dass er auf seinem Weg in Kalkutta irgendwie “feststeckte” und bat für ihn um spirituelle Hilfe.
© Sudari 2020-10-31