von Ilsebo
Das Buch ist gut, es ist warm, das volle Wartezimmer mit Stimmengemurmel und ständigem Kommen und Gehen eine wohlige Hintergrundkulisse.
Wieder öffnet sich die Tür und einer kommt und setzt sich auf den freien Platz schräg gegenüber. Etwas ist anders. In mir macht sich langsam und schleichend Unruhe breit, die Atmosphäre im Raum scheint dichter zu werden. Das Atmen fällt mir schwerer, mir wird wärmer, fast heiß. Ich fühle mich bedrängt, etwas bedroht mich und macht mir Angst. Ich hebe den Blick und schaue in die Runde und da begegne ich den Augen des neuen Wartenden, dem „Schräg-Gegenüber“. Ein kleiner, gedrungener Mann mit schütterem weißem Haar – eine durchaus gepflegte, doch unauffällige Erscheinung. Mein Herz klopft wie verrückt. Ich stehe auf und öffne das Fenster. Die Distanz zum Schräg-Gegenüber bringt Erleichterung.
„Herr X, Untersuchungsraum 1, bitte“, krächzt es aus dem Lautsprecher. Ein Schock und unvermitteltes Wiedererkennen. Ich stürme noch vor ihm noch aus dem Raum ins Freie.
17 Jahre sind seit unsererletzten Begegnung vergangen. „Unkomplizierte Mehrfachgebärende“, so sprach er ins Gerät, der diensthabende „Gott in Weiß“. Desinteresse und Überheblichkeit brachte er mir entgegen in einer Phase der völligen Auflösung. Ich spürte es war so weit. Und er meinte geringschätzig, das dauere noch lange, und weg war er. Er wurde gerufen, gesucht und gesucht und dann gefunden! Fast, aber eigentlich doch, zu spät!
„Gehirnblutung aufgrund manueller Einwirkung bei der Geburt“ so die Diagnose damals von kompetenten Ärzten in der Spezialklinik. Und nach fast 20 Jahren das „große Happy End“!? Ein gesunder großartiger Erwachsener auf dem Weg ins selbstständige Leben – und dazwischen, getragen von Eltern und Geschwistern, die Förderung und Fürsorge und der Verlust und die Trauer um die Unbeschwertheit, die Normalität und um die Sorglosigkeit durch viele Jahre!
Auch auf mehrmalige Nachfrage ließ damals Dr. X kein Gespräch zu.
Als ich vor Kurzem meine Tochter begleitend, unser kleines Enkelwunder im Arm, ein Krankenhaus betrat, sah ich mich plötzlich ihm wieder gegenüber. Die Stimme versagte, mir wurde schlecht!
Ich werde ihn bald besuchen.
© Ilsebo 2020-01-16