Bald wird sich niemand mehr erinnern. Manche Friedhofsbesucher werden vielleicht rätseln – ein völlig anderer, ein fremder Name für diese Gegend – auf einem alteingesessenen Familiengrab? Wer war Gottfried Gürtler, geboren 1875, gestorben 1960?
Er war auf Wanderschaft gewesen, hatte Arbeit gesucht und wohl auch eine Heimat. Er war aus Südtirol – aus dem „Walschen“ dem Dialekt nach und seinen spärlichen Erzählungen. „Sell woll“ – war sein am häufigsten gebrauchte Wort, das von uns Kindern sofort übernommen wurde. Er hatte keine Papiere und so schien es, auch keine Erinnerungen, zumindest keine worüber er reden mochte. Und wenn wir zu sehr ihn bedrängten, gab er uns ein paar Brosamen: „Wir waren viele Kinder. Wir lernten ein Handwerk und dann schnürten wir unser Bündel.“ Es hatte alles auch mit dem 1. Weltkrieg zu tun, dann mit Mussolini und Hitler – einem unverständlichen Wort „Option“ und „es gibt kein zu Hause“.
Und so wurde er „Gsell“ in der Schuhmacherwerkstätte meines Vaters. Sonntags wie Werktags saß er auf dem Schusterstockerl vor dem drehbaren runden Tischchen mit den vielen kleinen Schubladen gefüllt mit Nägeln und Holzstiften. Er flickte zerrissene Schuhe, nähte – mit der Hand natürlich – doppelte und zwickte auf. Nur am Sonntag, da tat er nichts, da saß er da und rauchte seine meist kalte Pfeife. Manchmal schaute er kurz in die Zeitung, die „Stadt Gottes“ und manchmal, wenn die Sonne schien, saß er auf einer kleinen Steinmauer neben dem Haus und machte die Augen zu. Da glaubten wir Kinder unsere Chance gekommen: „Gottfried erzähl!“ Aber er wollte seine Ruhe haben.
Wir liebten Gottfried. Er gehörte zu uns. Und manchmal in den schlechten Jahren, als keine Arbeit war, schnürte er sein Bündel mit seinen wenigen Habseligkeiten und machte sich auf den Weg, um Arbeit zu finden. Wir waren traurig, aber die Mutter sagte, er wird bald wieder da sein. Und so war es auch, sang- und klanglos saß er wieder da – noch ein wenig schweigsamer, noch ein wenig in sich gekehrter und allen unseren Fragen ausweichend. Geld konnte ihm mein Vater damals nicht geben, wir hatten selbst keines. Aber er hatte Essen, sein kleines Zimmer, seinen Platz in der Werkstatt und bei Tisch, und auch genügend Tabak und Kleingeld für die Kirchensammlung, und ab und zu einen gewässerten Wein.
Als meine Großmutter starb, dachte Gottfried wohl, dass auch für ihn die Zeit gekommen sei, und eines Tages stand er nicht mehr auf und zwei Tage später war er – einige Male heftig pfeifend ausatmend – gestorben, ohne jemals einen Doktor gesehen zu haben. Nicht einmal den Pfarrer brauchte er, denn er war ja immer in die Kirche gegangen und mit sich und mit Gott im reinen.
Und so wie ihm ein Platz in unserem Haus immer gewiss war, so war es selbstverständlich, dass er in unserem Familiengrab seinen Platz in der Erde und auf der Marmortafel fand; und meine Enkelkinder werden hoffentlich einmal fragen: „Wer war Gottfried Gürtler?“
© Christine Sollerer-Schnaiter 2020-06-23