von MISERANDVS
“Ich?”, fragte Opa lächelnd, als er mich auf seinen Schoß nahm, als Antwort auf meine Frage, ob er denn nicht an den lieben Gott glauben würde: “Ich bin gottgläubig.” Ich überlegte. “Opa, was heißt ‘gottgläubig’?” “Das kommt aus dem Krieg.”, sagte Opa, und ich lehnte mich mit dem Rücken an seine Brust, denn ich wusste, jetzt würde eine von Opas tollen Kriegsgeschichten kommen. “Als Soldaten, da waren wir alle gottgläubig. Ich glaube, dass es einen lieben Gott gibt, Knopfele, aber an die Kirche mit ihrem ganzen Zinnober drumherum, glaube ich nicht. Das ist Mumpitz!” “Mumpitz.”, wiederholte ich. Opa drückte mir einen Schmatz auf den Kopf, stellte mich auf den Boden, gab mir einen Klaps auf den Hintern und sagte: “Abmarsch!”
Als ich am Abend ins Bett gesteckt wurde, setzte sich Oma – wie jeden Abend – neben mir aufs Bett. Oma faltete die Hände, und ich auch. Dann beteten wir gemeinsam das Vaterunser. Und am Ende machte Oma mir ein Kreuz auf die Stirn mit ihrem Daumen, und ich bekam ein Küsschen. Ich denke heute zum ersten Mal seit den Kindertagen daran, dass Oma jeden Abend mit mir gebetet hat. Und ich habe das Bild vor Augen, wie ihre Hände sich dabei so perfekt aneinanderlegten, wie sich ihre schlanken Finger aneinander fügten, und ich ich mich redlich mühte, auch meine Hände so schön aneinanderzulegen wie sie. Bestimmt würde der liebe Gott streng drauf achten, dass die Hände wohl auch ja schön “gefaltet” wären.
Opa betete nie. Nicht mit mir. Ob Opa heimlich betete? Schließlich glaubte er ja an Gott. Ich weiß, dass Opa mit Gott sprach. Gelegentlich. Öfter, als es ihm Recht gewesen sein dürfte. Wenn Opa seine Phantomschmerzen bekam, und die Tabletten nicht helfen wollten. Dann weinte Opa, rieb sich seinen Stumpf mit beiden Händen, als wolle er sich sein Bein ausreißen. Und dann fluchte Opa. Er blickte an die Decke mit seinen verheulten Augen und schrie: “Du verdammte Drecksau!” Und ich stand heulend da und hoffte, dass der liebe Gott das nicht hören würde. Wieso nur tat ER meinem Opa so weh? Wofür bestrafte ER meinen Opa so fürchterlich?
Wenn ich heute meine Koliken bekomme, so im Schnitt alle acht Wochen und das seit 30 Jahren, dann fluche ich auch. Nicht immer. Gelegentlich. Wenn die Medis nicht helfen. Und was ich dann sage, kommt Opas Worten ziemlich nahe. In all den Jahren habe ich nicht einmal darum gebeten, dass Gott mir meine Schmerzen nehmen soll. Wozu auch? ER schickt sie mir ja. Ich bete niemals für mich, aber ich bete für andere. Ob das den Seelen hilft, wenn ein Gotteslästerer für sie betet? Hm. Ich hoffe, es schadet ihnen nicht.
Nach so vielen Jahren dieser unvorstellbaren Schmerzen geht mir langsam die Kraft aus, gegen sie anzukämpfen. Körperlich. Vor allem aber psychisch. Ich möchte immer öfter aufgeben, schwach sein, verlieren – einfach keine Schmerzen mehr haben. Und dann denke ich: “ER prüft dich. ER will dich brechen.”
Und das gibt mir Kraft. Ich lasse mich prüfen, aber ich lass‘ mich nicht brechen. Ich bin gottgläubig. Wie mein Opa.
© MISERANDVS 2021-05-02