von Franz Brunner
Oh Gott, meine Oma ist im Fernsehen! Gestern, in den Nachrichten, es war Jahrestag der russischen Invasion in der Ukraine. Auf fast allen Sendern gabâs RĂŒckblicke und Bilder, die wir gar nicht mehr sehen wollten. Zitternde, frierende Menschen, die unter TrĂ€nen ihr Elend schildern. Darunter meine Oma, in blumiger KleiderschĂŒrze und mit schwarzem Kopftuch.
NatĂŒrlich war das nicht meine Oma, die ist schon seit 45 Jahren tot, aber diese Frau hatte groĂe Ăhnlichkeit mit ihr â und ein vergleichbares Schicksal. Sie grub unter den TrĂŒmmern ihres Hauses nach Dingen, die ihr das Ăberleben erleichtern sollten.
Meine Oma war nicht wirklich meine Oma. Genauso wenig, wie Opa mein Opa war. Die beiden lernten sich kennen, als sie bereits jenseits der 60 waren. Ein ungleiches Paar, wie es ungleicher kaum sein konnte. Sie war klein, etwa 150 cm. Wahrscheinlich war sie mal drĂŒber, doch die schwere Arbeit am Feld hatte ihrem Körper zugesetzt. Ihre GröĂe lag anderswo: in ihrer Selbstlosigkeit, in ihrer GenĂŒgsamkeit und der ĂŒbermenschlichen FĂ€higkeit, Schmerzen zu ertragen. Und Opa, ein Hufschmied der alten Schule, ein Riesenkerl mit ebensolchen Pranken, der stand ihr in diesen Eigenschaften um nichts nach. Sie harmonierten perfekt, eine Bilderbuchliebe.
Sie war Magd auf einem groĂen Bauernhof knapp auĂerhalb der Stadt. Und dann, kurz vor ihrem 40-er, starb ihre jĂŒngere Schwester bei der Geburt meines Vaters. Damit war sie zum zweiten Mal Mutter, ob sie wollte oder nicht. Und auĂerdem meine Oma.
Auch ihr erstes Kind, eine Tochter, war kein Wunschkind, hatte zudem keinen Vater. Zumindest keinen, der bei Oma blieb und fĂŒr das Kind aufkam. Der Vater meines Vaters, also mein richtiger Opa, der hatte sich noch vor meiner Geburt am Dachboden erhĂ€ngt.
Auch mĂŒtterlicherseits verlief vieles nicht nach Plan, da gibtâs nur vage Erinnerungen an GroĂeltern und keinerlei Bilder in meinem GedĂ€chtnis. Oma, die Magd und Opa, den Schmied, die sehe ich hingegen deutlich vor mir.
Sie trafen sich jeden Samstagabend, um Karten zu spielen. Am Eichentisch im Esszimmer standen 2 RömerglĂ€ser, eine Flasche WeiĂwein und ein Almdudler zum VerdĂŒnnen, dazu eine Riesenpackung Soletti. Schnapsen war angesagt, meist ein ruhiges, schweigendes GeplĂ€nkel. Zwischendurch schlief Oma manchmal seelenruhig ein. Ein Bild fĂŒr Götter, wenn sie dahin döste, ein Soletti wie eine Zigarette im Mundwinkel hĂ€ngend, die Karten fest in der Hand und dazu leise grunzend.
Und Opa? Die personifizierte Geduld knabberte seelenruhig Soletti, bis Oma wieder aufwachte. Dann gingâs diskussionslos weiter, Opa hatte sich den Spielstand gemerkt. Gegen 22 Uhr gabâs den Abschiedskuss, Oma reckte sich von unten dem schnauzbĂ€rtigen Riesen entgegen.
Ein lauter Schmatz und Opa stapfte mit groĂen Schritten in die Dunkelheit, zu seiner 2 km entfernten, mĂ€rchenhaft schwarzen Schmiede. Sie waren groĂartig, die zwei Kartenhaie, aber ich glaube, es gibt sie ĂŒberall auf der Welt, diese grauen Helden.
© Franz Brunner 2023-02-25