von Sonja M. Winkler
Meine Mutter hat blaugraue Augen. In den letzten Jahren überzieht sie ein wässriger Glanz. Ihre Augen schauen oft ins Leere, wie es bei Sehschwachen der Fall ist, weil sie Mühe haben, sich auf etwas Bestimmtes zu fokussieren. Wenn wir rund ums Dorf gehen, dann grüßen die Leute sie immer zuerst. Meine Mutter grüßt dann zurück. Sie erkennt alle an der Stimme, auch wenn sie nur „Griaß Ihna“ oder „Gu‘ Moagn“ sagen. Meine Mutter sieht nur unscharfe Umrisse. Und ihre Welt ist ein bisschen grauer, als sie in Wirklichkeit ist. Aber was ist schon wirklich?
Die Namen und Telefonnummern der wichtigsten Menschen habe ich ihr mit schwarzem Filzstift in deutlicher Schrift auf etwas mehr als handtellergroße Zettel geschrieben. Mit einer riesigen Lupe kann sie das Geschriebene entziffern oder wenn sie das Papier knapp vor die Augen hält.
Was Gewohnheiten angeht, ist meine Mutter ziemlich stur. Sie hat ihren eigenen Schädel. Da kann man nichts machen. So besteht sie zum Beispiel wie eh und je darauf, den Abwasch selbst zu erledigen. Als Kind wünschte ich mir immer einen Rollentausch. Ich wollte so gern abwaschen, und die Mutti sollte das Geschirr abtrocknen und einräumen. Bis heute ist es nie zu diesem Rollentausch gekommen.
Dennoch hat sie sich zu kleinen Veränderungen hinreißen lassen. Sie, die sich ihr Lebtag eine Dauerwelle machen ließ, sagte dem zeitaufwändigen Procedere vor ein paar Jahren Ade, und seitdem trägt sie ihr weißes Haar glatt, in Kinnlänge geschnitten.
Was Kleidung anlangt, hat sie sich mir ein wenig angenähert. Ich kannte meine Mutter nur tipptopp angezogen, immer ein wenig overdressed, sobald sie das Haus verließ, stets Kostüm oder Kleid, passende Accessoires, natürlich Schmuck und Lippenstift. Eine Dame halt. Das war ihr wichtig. Jetzt gibt sie sich salopp, trägt zu jeder Jahreszeit Hosen aus Baumwolle, Schnürlsamt, sogar Jeans. Auch zu Sportschuhen hat sie sich herabgelassen und eingesehen, dass mit ihrem ausgeprägten Hallux ein Stöckelschuh nimmer in Frage kommt.
Das Credo meiner Mutter war: mehr Schein als Sein. Dass sie im Alter zu mehr Sein gefunden hat, macht sie für mich liebenswert.
Mein Vater war ihre große Liebe. Im Jänner 1953 lernte sie auf dem Frohsinn-Ball im Kaufmännischen Vereinshaus einen sportlich aussehenden Mann kennen. Er war technischer Zeichner bei der Vöest, verdiente gut und hatte eine Maschin‘, eine 250er-Puch mit Sozius. Er meinte es ernst mit ihr und er hieß auch so.
Im Sommer 1954 fuhren meine Mutter und ihr Ernst mit dem Motorrad Richtung Grado. Ihre Eltern, sagte sie, hätten große Angst gehabt, dass etwas passieren könnte, ein Unfall. War ja nicht ungefährlich, mit dem Motorrad auf den Straßen. Meine Eltern stiegen im Hotel Annenhof am Ossiacher See ab. Dort passierte tatsächlich etwas. Meine Mutter lächelte verschmitzt. Als sie im Oktober 1954 heirateten, war ich schon unterwegs.
© Sonja M. Winkler 2020-09-06