GroĂź und Klein

Mariella Hofer

von Mariella Hofer

Story

Im Wartezimmer herrschte große Aufregung und das war wörtlich zu verstehen. Denn in einem blauen Rollcontainer, so groß wie ein mittelgroßer Tisch, lag eine Schildkröte. Es war eine von diesen riesigen Landschildkröten, die Emily aus dem Zoo kannte. Nie hätte sie gedacht so eine bei ihrem kleinen Dorf-Tierarzt zu finden. Als sie sie betrachtete, fragte sich das Mädchen, wie der Besitzer das Tier in den Container gebracht hatte? Und noch viel wichtiger, wie wollte er das Tier in der Ordination wieder herausbefördern? Emily bezweifelte, dass selbst der robuste Behandlungstisch des Arztes dieses gigantische Reptil halten konnte. Vielleicht mit einer Rampe?

Während sie noch über dieses Rätsel grübelte, hörte sie laute Stimmen. Eine Frau mittleren Alters kam aufgeregt aus der Ordination gestürmt. Mit der einen Hand, hinter sich her zerrend, die Tierärztin und in der anderen Hand eine weitere Schildkröte. Ein kleines Tier. Nahezu winzig im Vergleich zu seinem voluminösen Artgenossen in der Box. Wenn man beide nebeneinander hielte, wäre das bestimmt ein tolles Foto. Die Frau eilte auf die Gartentür zu, die arme Ärztin hinterher, und setzte die Schildkröte dort ins Gras. „Sehen Sie!“, rief sie außer sich. „Er will sich gar nicht mehr bewegen! Vielleicht hat er ein Problem an den Beinen? Oder hat Depressionen?“ Die Besitzerin drehte sich zur Ärztin um und gestikulierte aufgeregt. Währenddessen sahen alle im Wartezimmer verdutzt dabei zu, wie die sogenannte depressive Schildkröte die Gunst der Stunde ergriff und wegrannte. Noch nie hatten sie ein normalerweise so langsames Wesen so schnell rennen sehen. „Vielleicht war er zu lange in der Gemüselade? Aber er hatte seinen Winterschlaf ja noch nicht beendet!“, schluchzte die Dame. „Gemüselade?“, entwich es Emily, bevor sie sich stoppen konnte. Die Frau drehte sich zu ihr um und antwortete: „Natürlich! Er muss an einem kühlen Ort überwintern und wir haben keinen Keller!“

Emily stellte sich vor, wie die Schildkröte im Kühlschrank neben einer Gurke lag und schlief. Sie musste nur einmal kurz aufwachen und schon hatte sie neben sich einen Mitternachtsimbiss und ihr Frauchen keinen Salat mehr. Was es alles gab. Emily erstaunte am meisten, dass sie nach allem, was sie bereits erlebt hatte, noch etwas erstaunen konnte. Doch hier saß sie und beobachtete eines der angeblich langsamsten Tiere der Welt, wie es so schnell es konnte vor seiner Besitzerin und ihrer Gemüselade weglief.

© Mariella Hofer 2022-08-28

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