Großer Bruder

Ich reibe ihm oft unter die Nase, dass ich bereits ein Jahr länger auf dieser Erde lebe und er mich daher als weise, starke große Schwester sehen kann.

Ich erinnere ihn auch gerne an die Zeit, in der ich körperlich noch größer war als er, auch wenn er jetzt fast 15 Zentimeter nach unten schauen muss, um mit mir zu reden. Auch stärker bin ich schon lange nicht mehr. Dafür hat die Pubertät gesorgt. Das würde ich allerdings niemals zugeben.

Auch wenn er größer ist, bleibt er mein jüngerer Bruder.

Der kleine Kerl, mit dem ich das Leben durchgestanden habe. Der Einzige, der mich während der Trennung unserer Eltern wirklich verstanden hat. Mein Spielgefährte, mein Freund, mein Zimmernachbar. Gemeinsam haben wir die Welt entdeckt und zu verstehen gelernt.

Unsere Beziehung könnte typischer nicht sein. In einem Moment spielten wir miteinander, im nächsten stritten wir bitterlich, nur um danach gemeinsam auf dem Sofa vor dem Fernseher eine Schüssel Popcorn zu teilen.

Wie der Anführer einer Schurkenbande überredete ich ihn zu gewagten Aktionen. Ich erinnere mich an ein Foto, in dem wir in Unterhose im Wohnzimmer von Kakaopulver umgeben sind. Es ist in unseren Haaren, auf unserer Haut, in den Möbeln und auf dem Boden. Wir saßen mit einem Grinsen, braunen Mundwinkeln und einem Löffel vor der fast leeren Verpackung.

Doch irgendwann war es uncool, seine Freizeit mit den eigenen Geschwistern zu verbringen. Wir fuhren getrennt auf unseren Mopeds, rauchten mit unseren unterschiedlichen Freundeskreisen die erste Zigarette, tranken den ersten Alkohol und hatten unseren ersten Kuss mit Personen, die der andere nicht kannte. In dieser Zeit waren die Freunde wichtiger als die Familie.

Doch wir haben immer wieder zueinander gefunden, wenn einer von uns beiden eine Zeit lang eine Solo-Mission durchziehen musste.

Ich verdanke ihm die Fähigkeit, teilen zu können, für zwei zu denken, jemanden zu beschützen, hilfreich zu sein und zu wissen, dass ich niemals allein bin – so wie er niemals allein sein wird.