[GroĂź]vater

Michael Arwin Urban

von Michael Arwin Urban

Story

Es müsste heute gegen 12 Uhr gewesen sein, als meine kleine Schwester mich anrief, um mir mitzuteilen, dass unser Vater am vergangenen Wochenende gestorben ist. Für den einen oder anderen mag allein der Gedanke an solch einen Anruf zu den schlimmsten Szenarien zählen, die einen eines Tages ereilen könnten. Gerne würde ich euch nun davon erzählen, wie wir uns gegenseitig Trost gespendet haben, um unsere tiefe Trauer über seinen Verlust mit schönen gemeinsamen Erinnerungen zu lindern. Vielleicht hätte es sogar so kitschig ablaufen können – wenn unser Vater ein anderer gewesen wäre. Wer weiß?

Wir kannten unseren Vater gut genug, um zu wissen, dass er nie ein Vater für uns sein wollte – aber zu wenig, um ihn dafür zu hassen. Er war nichts weiter als eine flüchtige Erzählung unserer Mütter, ein auswendig gelernter Name, den man gelegentlich in Formularen angeben musste, und ein Mensch, von dem nur Fremde behaupteten, dass er nötig sei, damit man eine „echte“ Familie hat. Letzteres verstehen wahrscheinlich nur Kinder, die in bayerischen Dörfern aufgewachsen sind – dort, wo so manch einer ein wenig zu oft innerhalb der „echten“ Familie geheiratet hat. Ganz nach dem Motto: „Alles für die Fam.“

Mir würden viele strafrechtlich relevante Bezeichnungen einfallen, um seine herausragende Verantwortungslosigkeit zu unterstreichen – doch Worte sind überflüssig. Am Ende zählen nur die Taten, und es hat seine Gründe, warum ihm niemand – nicht einmal seine eigenen Eltern und Geschwister – eine Träne nachweint. Er war nicht da – nicht an Geburtstagen, nicht an Weihnachten, nicht in Momenten, in denen man sich einen Vater wünscht, und nicht in denen, in denen man froh ist, keinen zu haben. Er hinterlässt keine Lücke, weil es nie eine gab.

Jedes Mal, wenn ich versuche, mich an meinen Vater zu erinnern, denke ich unweigerlich an meinen Großvater. Er gab mir Ratschläge, auch wenn ich sie nicht hören wollte, feuerte mich bei meinem ersten Fußballspiel an, besorgte mir meinen ersten Job, als ich keinen Ausbildungsplatz fand, holte mich in den frühen Morgenstunden besoffen von irgendwelchen Bauernpartys ab, freute sich für mich, als ich meinen ersten Plattenvertrag unterschrieb, brachte mir bei, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen und ließ mich jederzeit spüren, dass ich ihm etwas bedeutete, ohne jemals dafür auf Dankbarkeit zu hoffen. Jeder hätte meinen Vater ersetzten können aber niemand auf der Welt meinen Großvater.

Die einzige Erinnerung an meinen Vater wird dieser Text sein, in dem ich allen mein tiefstes Beileid ausspreche – weil sie keinen [Groß]vater hatten, wie ich es hatte.

Danke fĂĽr alles.

© Michael Arwin Urban 2025-03-15

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Dunkel, Emotional, Hoffnungsvoll, Inspirierend, Reflektierend
Hashtags