Grundbedürfnisse

Sonja M. Winkler

von Sonja M. Winkler

Story

Ich habe keinen Zweitwohnsitz in Gars am Kamp und pendle daher nicht zwischen meiner Wiener Adresse und einem Häuschen im Grünen hin und her. Ich habe keinen Lebensgefährten, der am Attersee wohnt und mich bittet, ihn jedes zweite Wochenende zu besuchen.

Ich ziehe nicht um, brauche daher keinen Übersiedlungsvan und muss mir auch nicht den Kopf zerbrechen, wer von meinen Freunden als Möbelpacker in Frage käme und wie man einen Abstand von mindestens einem Meter einhielte.

Ich besitze kein Pferd, das auf einem Bauernhof weitab von Wien eingestellt ist und das ich unbedingt besuchen muss, damit die nötige Bewegung sichergestellt ist, für das Pferd, wohlgemerkt, nicht für mich.

Eine Hochzeit in nächster Zukunft? Auch das nicht. Mein Sohn sagte letzten August Ja. Begräbnis? Nicht dass ich wüsste. Meine Mutter ist 90, und es geht ihr, wie sie mir vorgestern telefonisch versicherte, gut.

Wenn einer dieser Punkte auf mich zuträfe, wäre mein Bewegungsradius bei weitem größer, als er mir tatsächlich momentan durch die Maßnahmen zuerkannt wird, denn die oben genannten Dinge, so lese ich, wären mir deshalb gestattet, weil sie zu den Grundbedürfnissen zählen. Aha.

Ich bin ein Einpersonenhaushalt. Laut Statistik Austria gibt es in Österreich zirka 1,5 Millionen Alleinlebende, die ihre Wohnung mit niemand anderem teilen. Ich habe nicht einmal einen Hund, den ich laut Verordnung mehrmals am Tag Gassi führen dürfte.

Ich habe mich auf der Internetseite des Sozialministeriums ein wenig schlau gemacht, weil ich wissen wollte, was so landläufig unter „Grundbedürfnissen“ verstanden und was zur Befriedigung dieser gestattet wird.

Grundbedürfnisse. Ich habe ein großes Bedürfnis nach Begründung. Nach Begründung von Maßnahmen, die mir einleuchten. Nach Maßnahmen, wobei deren Maß und Ziel hinlänglich erklärt und nichts ausgespart wird.

Ich entdecke da und dort Widersprüchliches und in mir den Impuls zu widersprechen. Ich lese, dass Fahrgemeinschaften mit Personen, die nicht im gemeinsamen Haushalt leben, gestattet sind, wenn alle im Auto Befindlichen einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Mir leuchtet aber nicht ein, weshalb das eher enge Zusammensein in einem fahrbaren Käfig ausdrücklich gestattet ist, aber das Wandern und Spazierengehen und Zusammensein im Freien mit den engsten Freunden bzw. Freundinnen nicht, wobei ich ohnehin nur an Treffen mit jeweils einer Person denke.

Der Zusatz „im gemeinsamen Haushalt lebend“, der seit Wochen überstrapaziert wird, greift zu kurz und diskriminiert Alleinlebende. So als hätten sie keine Bedürfnisse außer Unternehmungen im Alleingang. Nicht jeder Mensch ist Teil eines Paares oder lebt im Familienverband. Und nicht jeder ist entweder Opa oder Oma, die in Corona-Zeiten ihrer Hauptaufgabe, nämlich Enkerl zu betreuen, nicht nachkommen dürfen. Nicht jeder ist ein hochbetagter Mensch in einer Pflegeinstitution, der jetzt die Besuche seiner Liebsten entbehren muss.

Wer nimmt Maß?

© Sonja M. Winkler 2020-04-22

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