von Clara Wüst
Mara sah auf die Uhr. Die Zeit zog sich wie Kaugummi. Sie wollte endlich in die Pause! Bio war noch nie ihr Ding gewesen. Besonders heute. Sie wollte nichts über den Jagdinstinkt der Tiere in der Savanne wissen. Lieber wollte sie selbst durch die Natur jagen und sich bewegen. Noch ein Blick zur Uhr. Eine halbe Stunde bis zur Pause, na toll. Mara wollte gerade aus ihrem Lineal und den Textmarkern ein Flugzeug bauen, als sie hinter sich Gekicher hörte. Das war eigentlich nichts Neues. Franzi und Henriette kicherten praktisch immer. Sie saßen ganz hinten in der letzten Reihe. Dort machten sie immer, was sie wollten, kein Lehrer bemerkte es. Eigentlich schienen sie immer mit allem durchzukommen. Egal, ob sie verbotenerweise am Handy waren oder den Referendar mit Papierkügelchen beworfen. Es gab aber auch schlimmere Sachen, die kaum jemand bemerkte. Zum Beispiel, wenn Henriette und Franzi Leon den Schulranzen wegnahmen und ihn in den Abfallcontainer warfen oder Leon auf dem Weg zum Bus vor die Füße spuckten. Niemand schien etwas dagegen zuhaben, oder zumindest sagte keiner etwas. Dabei bekam es jeder mit.
Mara fühlte sich schlecht, wenn sie sah, wie Leon schikaniert wurde. Einerseits wollte sie helfen, aber sie wollte auch nicht selbst zum Opfer werden. So wie früher. Mittlerweile machte eigentlich jeder mit. Bis auf Mara. Doch sie stand auch nur daneben und sagte nichts. Das war fast genauso schlimm.
Sie wurde neugierig, als immer mehr Leute zu lachen anfingen. Es schien sich wie eine Pandemie auszubreiten. Ihr Sitznachbar Paolo stupste sie an und reichte ihr ein Blatt Papier. „Was ist das?“, fragte sie. „Lies einfach!“ Mara las. Und verstand. In Schönschrift stand dort geschrieben: „Wer findet, dass Leon hässlich ist, unterschreibt hier“ Und darunter: „Bitte weiterreichen bis zu Stinke-Leon!“ Beinahe alle, die den Zettel schon in die Finger bekommen hatten, hatten unterschrieben.
Herr Reiser, der Biolehrer, war inzwischen voll in Fahrt beim Thema Instinkt. „Wenn in einer Herde ein Tier anfängt loszupreschen, dann rennen die anderen hinterher, weil sie denken, dass es schon einen Grund geben wird, der das eine Tier zum Losrennen veranlasst. Und das Tier, das nicht losrennt ist meistens das Tier, das vom Löwen gefressen wird!“ Mara spürte Zorn. Sie wollte nicht das Tier sein, dass gefressen wurde. Aber sie wollte auch nicht einfach mitrennen. Sie wollte sich dem Löwen stellen.
Sie nahm sich den Tintenkiller und killerte einige Worte weg. Dann schrieb sie die Wörter in ähnlicher Schrift neu und reichte der nächsten Person das Blatt. Sie betete zum Himmel. „Bitte, bitte lass es niemandem auffallen! Bitte lass den Zettel bei Leon ankommen! Bitte…“ Sie öffnete die Augen- und wunderte sich. Das Blatt war schon beinahe in der ersten Reihe und damit fast bei Leon. Sie wusste nicht, ob sie traurig sein sollte oder glücklich. Traurig, weil die ganze Klasse einfach mitmachte, weil die anderen vor ihnen schon unterschrieben hatten. Oder glücklich- wegen Leons Reaktion. Der Junge las den Brief und lächelte selig. „Wer findet, dass Leon liebenswert ist, unterschreibt hier. Bitte weiterreichen bis zu unserem Lieblings-Leon“
© Clara Wüst 2025-01-15