von Daphne-Levoke
Die Mittagssonne scheint am Himmel und es ist ein herrlicher Tag. Sollte man meinen. Ich renne auf die Ampel zu, doch ich bin nicht schnell genug. Die Ampel ist bereits Rot. Verdammt. Die deutsche Kartoffel in mir, weigert sich über eine rote Ampel zu gehen. Also warte ich artig. Komm schon, verdammte Ampel. Beeil dich Mal! Ich sollte wirklich mehr Ausdauersport machen, die paar Meter rennen haben mich fix und fertig gemacht. Mein Atem geht schwer und ich wische mir eine Schweißperle von der Stirn. Auf einmal stupst mich jemand an der rechten Schulter an. Bitte, bitte kenne ich diese Person nicht, ich habe wirklich gar keine Lust mich zu unterhalten. Nicht jetzt – nicht hier.
„Oh mein Gott, wir haben uns so lange nicht mehr gesehen, komm lass dich drücken!“, sagt die schlanke Blondine strahlend und fällt mir in die Arme. Na ganz toll.
„Wow, siehst du gut aus! Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Seit dem Abitur nicht mehr, oder? Erzähl, wie geht es dir?“, sagt sie strahlend. Sie sieht so glücklich und unbeschwert aus. Neid steigt in mir auf.
Ich versuche schwach zu lächeln, aber es fällt mir schwer. Die letzten Tage waren zu viel für mich. Nein, ich lüge – die letzten Monate waren zu viel für mich. All der Schmerz liegt so schwer auf meinem Herzen. Ich würde all das so gerne jemandem erzählen und mein Leid teilen – wie sagt man so schön? Geteiltes Leid ist halbes Leid? Aber ich kann nicht. Ich will nicht, dass jemand meine Schwäche sieht. Niemand soll meine Schwäche sehen. Niemand darf meine Schwäche sehen.
Ein Teil von mir will stark wirken und fröhlich sein – so wie es von mir erwartet wird. Doch die Fassade, die ich so sorgfältig aufrechterhalte, beginnt langsam zu bröckeln. Ich kann einfach nicht mehr. Bevor ich mich versehe, sprudelt es aus mir heraus.
„Ehrlich gesagt, geht es mir richtig beschissen. Seit dem Verlust meines Opas befindet sich meine ganze Familie in Trauer. Ich fühle mich wie gefangen in einem schwarzen Loch und weiß nicht wie ich da wieder herauskommen soll. Zusätzlich hat meine Schwester vor einem Jahr Zwillinge auf die Welt gebracht, auf die ich ständig aufpasse. Ich habe die beiden sehr lieb, doch leider sind sie ständig krank – und wenn ich ständig sage, meine ich auch ständig. Letzte Woche hatte ich dank denen Magendarm, die Wochen davor Masern und momentan brüte ich eine Bronchitis aus. Außerdem habe ich durch das Studium und durch das ständige krank sein, weder Zeit zum Arbeiten, noch für Sport. Bald geht mir das Geld für die Miete aus und gute Ernährung habe ich schon lange abgeschrieben. Dadurch habe ich 8 kg zugenommen und meide es an jedem Spiegel vorbeizugehen. Um das ganze noch zu toppen, bin ich letzte Woche durch 2 Klausuren durchgefallen und muss jetzt insgesamt 6 Klausuren nachholen – und das erst im 3. Semester. Ob ich deshalb Komplexe habe und mich frage, ob ich zu dumm für das Studium bin? Ja! Ob ich gerade sowieso mein ganzes Leben hinterfrage und nicht weiß, ob ich doch etwas ganz anderes hätte machen sollen? Definitiv! Zu allem Überfluss sind meine meisten Freunde schon mit dem Studium oder der Ausbildung fertig, bauen sich erfolgreiche Karrieren auf, kaufen Häuser und kriegen Kinder. Ich fühle mich total hilflos, als würde ich hinterher hängen und mein Leben nicht im Griff haben. Ach und zusätzlich bin ich überfällig und vielleicht schwanger und wenn diese verdammte Ampel gleich nicht endlich grün wird, verpasse ich noch meinen Frauenarzttermin!“.
Sie starrt mich entgeistert an. Halt Stopp. Das kann ich nicht machen. Sowas will doch niemand hören, oder? Wen interessiert die Wahrheit denn bitteschön? Ich atme tief aus und überwinde mich, ein Lächeln aufzusetzen.
„Gut und dir?“, antworte ich stattdessen. Die Ampel schlägt auf Grün um. Sie strahlt mich an und fährt sich durch ihre dichten, blonden Haare.
„Schön, mir gehts auch gut! War toll dich zu sehen, ich muss jetzt aber los, bis bald!“, entgegnet sie und läuft los.
© Daphne-Levoke 2024-01-28