Gute Seele

Hannah X

von Hannah X

Story

Sie wusste immer noch nicht recht, was sie mit der weinenden und schluchzenden Frau anfangen sollte. Auch jetzt wĂ€re sie gerne ein Hund, dem weitaus positivere Eigenschaften zugeschrieben wurden als MĂ€usen. Wenn sie an ihre Familie dachte, verstand sie auch durchaus warum, aber so in Sittenhaft genommen zu werden, war doch etwas unfair. Sie fĂŒrchtete trotzdem, dass wenn sie jetzt anfing beruhigend am Ohr der Frau zu knabbern (wie ihre Mutter es bei ihr vor dem Mozzarella-Debakel immer gemacht hatte), es eher den gegenteiligen Effekt haben wĂŒrde. Sie wusste, dass die Frau die Visitenkarte suchte, aber das war ihr Schatz. Und sie hatte auch das GefĂŒhl, dass die Visitenkarte nicht wirklich der Grund fĂŒr den Ausbruch der Frau war.

Sie drehte sich um, um noch ein bisschen durch ihre Zwischenwand zu laufen. Das beruhigte sie meistens. Loch fĂŒr Loch stattete sie den verschiedenen RĂ€umen des Erdgeschosses einen Besuch ab. Der Concierge fĂŒr die Nacht, von dem sie vermutete, dass er eine Ahnung hatte, dass die Zwischenwand nicht ganz unbewohnt war, guckte wie immer Fußball. Sie hatte dem Spiel nie etwas abgewinnen können, aber schaute trotzdem jede Nacht ein paar Mal bei ihm vorbei, um nach dem Rechten zu sehen, und vor allem um die Neuigkeiten der GĂ€ste mitzubekommen. Nachts passierten immer die verwunderlichsten Dinge. Letzte Woche musste der Concierge einer Frau aus einem kniehohen Lederstiefel helfen, der einfach nicht von ihrem linken Fuß kommen wollte. Concierge, Page und Koch zogen an dem Schuh, wĂ€hrend die Verlobte der Frau die Frau festhielt. Irgendwann hatten sie es wohl geschafft, denn als sie spĂ€ter wieder vorbeikam waren die Frauen weg. Gestern hatte ein wohl irgendwie berĂŒhmter Mann mit dem Concierge einen Text fĂŒr seinen nĂ€chsten Film geĂŒbt. Sie konnte verstehen, warum der Schauspieler berĂŒhmt war und hatte bei einer Szene vor EntzĂŒckung so laut gequietscht, dass die beiden Übenden zusammen gezuckt waren. Der Concierge aber hatte das GerĂ€usch als Beifall des guten Hausgeistes abgetan. Das hatte ihr gut gefallen. Sie selbst sah sich auch als eine Art Hausgeist an. Sie passte auf das TrĂ€umchen, seine GĂ€ste und Angestellten auf und legte dabei ein kleines Archiv ĂŒber sie in ihrem Kopf und ihrer Zwischenwand an. Und was waren Geister anderes als wandelnde Archive?

Heute allerdings sah es still aus im Zimmer den Concierges. Er war ĂŒber eine Liste gebeugt und neben ihm lief das Spiel, das er kaum wahrzunehmen schien. Wahrscheinlich musste er planen, wie er die WĂŒnsche der GĂ€ste erfĂŒllen konnte. Im TrĂ€umchen waren zwei Arten von GĂ€sten: solche, die das TrĂ€umchen fĂŒr geschĂ€ftliches nutzten, wie die Frau und Charles, und solche die hier gerne abseits des Alltages zur Ruhe kommen wollten. Beides existierte gleichzeitig nebeneinander, und manchmal hatte sie das GefĂŒhl, dass das TrĂ€umchen eine Parallelwelt war, genau wie ihre Zwischenwand eine Parallelwelt war. Menschen machten eine Stippvisite in das TrĂ€umchen, entweder um anderen vorzugeben wichtig und kompetent zu sein, oder um sich selbst vorzuspielen, ein entspannter und glĂŒcklicher Mensch zu sein. Sie selbst machte das gleiche, nur dass sie sich mit ihrer Stippvisite durch ihre Löcher vorspielte, Teil des TrĂ€umchens und des Lebens zu sein.

© Hannah X 2024-06-29

Genres
Romane & ErzÀhlungen