Hab Erbarmen

Gunny Catell

von Gunny Catell

Story

.. lautet das erste Kapitel aus einem Buch, bei dem allein schon der Titel mich fesselte: „Zum Greifen nah“. Als mir 1984 dieses Buch in meiner Lieblingsbuchhandlung unterkam, war ich sogleich gecatcht. Auf den wunderbaren Autor hatte mich eine Freundin aufmerksam gemacht, denn sie hatte mir zuvor sein „Giovannis Zimmer“ geschenkt.

Ich las die Kritik: „Selten sind Charaktere so markant in ihren Schwächen und Stärken und gleichzeitig so behutsam-sensibel dargestellt worden wie in diesem Buch, und selten ist Anteilnahme unter Menschen, Mitleiden, Mitfreuen, Sichsorgen und Helfenwollen so glaubhaft geschildert worden. Auch in diesem Roman erschüttert wieder die Gestaltung der beiden Grundthemen James Baldwins: die Homosexualität und der brutale Rassismus der weißen Amerikaner. Baldwins Buch ist der verzweifelte Versuch eines Schriftstellers, den Menschen die Liebe zurückzubringen, die ihnen abhanden gekommen ist, ihnen die Augen zu öffnen über den Hass und die Brutalität, die sie und ihre Welt zu zerstören drohen.“

Das hat gesessen.

Der Roman beginnt damit, dass der Ich-Erzähler erfährt, sein Bruder, ein schwarzer “gefühlsstarker“ Gospelsänger, sei in der Männertoilette im Keller eines Londoner Pubs tot in einer Blutlache liegend aufgefunden worden. Und so beginnt über 644 Seiten eine Trauerarbeit weit jenseits meiner Vorstellungskraft. Wie wenig wissen wir doch darüber, wie ein Bruder seinen Bruder liebt, wie ein SCHWARZER Bruder seinen Bruder liebt. Wie können die Menschen sich das antun? Wie kannst du Mensch mir sagen, was du mir eben gesagt hast, und jetzt einfach nur „dasitzen auf deinem beschissenen, gottverdammten Regenbogen“ und schweigen? Oh. Wärst du doch ein Mensch wie ich. Ich weiß, ich war nicht immer gut zu dir. Aber du hast den Leuten nie etwas vorgemacht. Du hast für sie gesungen. Wenn überhaupt, haben die Leute dir etwas vorgemacht. Mein Gott, gib mir meinen Bruder wieder, gib mir meinen Bruder wieder!

Das Buch gibt mir keine Ruhe, gibt mir keinen Schlaf, bis ich nicht alles weiĂź ĂĽber seinen Bruder, ĂĽber sein Leben, seine Lieben, seine Familie. Und am Schluss sehe ich das Flehen in diesen Augen. Ich weiĂź nur mehr, ich will dich! Oh geliebter Bruder, wenn diese Welt in Flammen steht, ich werde schon herausfinden, was am Ende der StraĂźe ist. Da ist nichts anderes als ?

Nach einem atemberaubenden Lesewochenende habe ich herausgefunden, was am Ende der Straße war. Ich wusste nun, was ich im Leben wollte, nämlich Humanist sein, Kämpfer gegen Ungerechtigkeit, Künstler und irgendwann Schriftsteller. Ich habe diese schwarze Seele in mir gespürt, die ich war und mich für immer veränderte.

Als ich aus meinem aufwühlenden Lesetraum aufwachte, war mein Kissen neben mir nass von Tränen. Nie hat mich ein Buch mehr berührt als dieses, nie das humanitäre Wirken eines Schriftstellers mehr inspiriert als das von Baldwin.

Ich wollte ANDEREN auch zum Greifen nah sein. Das war das einzige, was ich ab nun brauchte.

© Gunny Catell 2021-11-26

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