von Herbert Schieber
Das Telefon meiner Frau läutet. Es ist Andrea, die Heimhilfe meiner Schwiegermutter: „Deine Mutter gefällt mir gar nicht. Ich werde mit ihr ins Spital fahren.“ „Ok! Halte mich bitte am Laufenden.“, antwortet meine Frau.
Meine Schwiegermutter ist 82Jahre alt, wohnt alleine, 135km von uns entfernt. Wir sind die nächstgelegenen Verwandten. Ein Sohn und der Bruder von ihr wohnen in der Nähe von Wien. Ein weiterer Sohn gar in England. Ihr Freundeskreis hat sich, auch altersbedingt, nahezu auf Null reduziert.
„Die Schulter war sturzbedingt ausgekegelt. Jetzt trägt sie eine Schlinge.“, meldet Andrea etwas später. Am Telefon hatte die Schwiegermutter den Sturz nie erwähnt. Sofort macht sie sich meine Frau auf den Weg. Als sie ankommt, sieht sie wie hilflos und verwirrt die Schwiegermutter ist. Es ist klar, dass zweimal Heimhilfe und zwei Tage Seniorenzentrum pro Woche zu wenig sind. Sie braucht täglich Hilfe.
Doch es ist Urlaubszeit. Keine Chance von irgendeiner Hilfsorganisation zusätzliche Unterstützung zu bekommen. Meine Frau ständig bei ihrer Mutter?… Unter diesen Umständen würde meine Frau sicher vor der Schiegermutter in ein Heim eingewiesen werden.
In ihrer Verzweiflung fällt meiner Frau ein, dass Frau S., die unmittelbare Nachbarin, teilweise ihren eigenen Vater betreut. Ob es möglich ist, dass sie für drei Wochen einmal täglich bei der Schwiegermutter hineinschauen würde, ob alles in Ordnung ist. „Natürlich, machen wir gerne!“ Wir sind erleichtert. Das schafft Luft um eine tägliche Betreuung zu organisieren.
Am nächsten Vormittag ruft meine Schwiegermutter an: „Frau S. hat mir in der Früh einen guten Tee gebracht und ein Brot geschmiert!“ Anruf am Nachmittag: „Frau und Herr S. haben mir zu Mittag ein gutes Essen gebracht.“ Telefonat am nächsten Tag: „Gestern waren beide am Abend noch da und haben mir noch einen Tee gemacht!“… und so geht es weiter, Tag für Tag. Sie nehmen sich auch Zeit, um sich die zigfach wiederholten alten Geschichten von der Schwiegermutter anzuhören. Und jedesmal wenn wir sie während dieser Zeit besuchen, erkennen wir, wie sie durch diese aufopfernde Nachbarschaftshilfe wieder zusehends heller und lebensfroher wird.
Wir haben nur ein Problem mit dem Ehepaar S., sie wollen für ihr einzigartiges aufopferndes Handeln keine Gegenleistung annehmen!
Während diesen drei Wochen kann meine Frau weitestgehend alles organisieren. Jetzt gibt es für die ganze Woche einen durchgehenden Plan für die Betreuung durch Hilfsdienste. Doch die Schwiegermutter war immer schon selbstbestimmt und sieht nun ihre wichtigste Aufgabe darin, diesen Plan auf vielseitigste Arten zu boykottieren, um meiner Frau das Leben schwerer zu machen.
In solch schwierigen Situationen sind sie wieder da, diese selbstlosen und herzensguten Schutzengel aus dem Nebeneingang. Denn sie achten auch weiterhin bei Bedarf darauf, dass es dieser oft sehr starrsinnigen Frau an nichts fehlt und ihr auch nichts passiert!
© Herbert Schieber 2019-12-01