von Julia Rosner
Ich stehe am Hafen, die Sonne geht unter. Die Lichter der Stadt leuchten hell, dunkel wird es hier nie. Es war immer etwas los in der Stadt, die viele das “Tor zur Welt” nennen oder “die schönste Stadt der Welt”.
Eben noch allein mit der Stille der untergehenden Sonne, werden jetzt die Stimmen lauter. Der Abend bricht an und die Reeperbahn füllt sich mit feiernden Menschen.
Ich bin schon lange keine mehr von ihnen.
Es gibt vieles im Leben, das ich nie entschieden habe und trotzdem ist es, wie es ist. Ich habe mir nicht ausgesucht geboren zu werden, geschweige denn wo. Vielleicht hätte ich einen anderen Ort als Hamburg gewählt, vielleicht sogar eine andere Familie. Ich habe mir nicht ausgesucht, welche Sprache ich sprechen möchte, ich habe mir nie ausgesucht, auf welche Schule ich gehen kann. Und trotzdem sprechen alle immer und immer wieder vom freien Willen.
Hätte man mich vor ein paar Jahren gefragt, was ich tun würde, wenn es keine Grenzen gäbe und mir alle Türen offen stehen würden, hätte ich ohne lange nachzudenken gesagt, dass ich einfach nur weg will. Reisen, die Welt sehen. Andere Menschen kennen lernen, andere Kulturen. Nicht eingesperrt in dem Leben und die Verpflichtungen, die mich runter drücken und nicht mehr atmen lassen. Fliegen, frei sein, Cocktails trinken oder mit dem Schiff über die Ozeane. Einfach weg von dem Leben, dass sich um mich herum, quasi wie von allein aufgebaut hat. Den goldenen Käfig sprengen, Fehler machen und mit den Konsequenzen leben.
Das würde ich heute nicht mehr sagen. Freier Wille muss nicht unbedingt heißen, alles um sich herum zu zerstören und auszubrechen. Und schon gar nicht ins nächstbeste Flugzeug steigen, ohne Rücksicht. Denn, wenn ich es mir so recht überlegte, ist die grenzenlose Arroganz meines eigenen Egoismus auch nur eine Art Rebellion.
Nein, das muss anders gehen. Es muss möglich sein, frei zu sein und trotzdem ein Zuhause zu haben.
Ich dachte an all die Nächte, in denen ich alleine gewesen bin und mich so einsam gefühlt hatte, obwohl ich nie alleine gewesen bin. An die Schrecklichsten Erlebnisse, über die ich nie gesprochen hatte, weil verdrängen einfacher war. An all die Niederlagen und Verluste. An meine falschen Entscheidungen.
Aber auch an die Menschen, die mir die Welt bedeuteten, die Freunde, die da gewesen sind, gerade dann, wenn ich es am wenigsten verdient hatte. An die Siege, die wir gemeinsam erlebt hatten und die Liebe, die ich empfunden hatte.
Es war nicht per se alles schlecht, aber in diesem Moment wurde mir klar, dass diese Stadt nicht mein Zuhause war und auch niemals sein würde.
Aber es musste sich was ändern, hier und heute. Ich brauchte einen Neubeginn und die Stadt hinter mir lassen, die mir so viel genommen hatte.
© Julia Rosner 2022-04-03