Hang zur Wahrheit

Sonja M. Winkler

von Sonja M. Winkler

Story

Heute, ein Montag, werd‘ ich mir im SWR um 22 Uhr „Sag die Wahrheit“ ansehen. Drei Kandidaten stellen sich vor, behaupten im selben Wortlaut, einen außergewöhnlichen Beruf bzw. ein ausgefallenes Hobby zu haben. Zwei der Kandidaten flunkern, nur einer sagt die Wahrheit. Diese Person herauszufinden ist die Aufgabe des vierköpfigen Rateteams (2 Männer, 2 Frauen), das eine knappe Minute lang den dreien sachliche und persönliche Fragen stellt. Es ist noch nicht lange her, da behaupteten drei Frauen, Kate Stone zu heißen und Virtuosinnen auf einem Instrument zu sein, das man Handpan oder Hang nennt.

Nachdem die „wahre“ Kate Stone ihre Identität gelüftet hatte, gab sie eine Eigenkomposition zum Besten. Sie platzierte das Klanginstrument, das aussieht wie ein Kugelgrill mit Einbuchtungen, auf ihren Schoß, und dann tanzten zehn Finger mit einer Leichtigkeit über das Instrument und entlockten ihm sphärische Klänge sondergleichen. Während ich dem magischen Spiel lauschte, fiel mir eine außergewöhnliche Begegnung ein.

Leonardo Trincabelli. Allein schon sein Name ist ein melodisches Klangerlebnis, das man sich auf der Zunge zergehen lassen muss. Ich war seinem Spiel vollends verfallen, damals, in Barcelona.

Wir schreiben das Jahr 2012. Es ist Februar. A., eine langjährige Freundin, hatte eine knappe Woche Spanien gebucht, doch kurz vor Reiseantritt bekam ihre Begleitung kalte Füße. Ich sprang ein, und wir verbrachten fünf herrliche Tage in Barcelona.

Nachdem wir den Hausberg Montjuic erklommen hatten und auf Gaudis Spuren gewandelt waren, besuchten wir den Parc Güell. Plötzlich diese Klänge. Wie von Engelshand gespielte Melodien, zauberhafte Klanggebäude, die in den Himmel wuchsen, Melodien zum Träumen, Loslassen, Sichvergessen. Ich war hingerissen.

Den Lockrufen der Sirenen folgen. Auf verschlungenen Pfaden bis zur Schallquelle vordringen. Voller Ehrfurcht stehenbleiben und staunen. Da saß er auf dem Boden, eine Decke ausgebreitet, und spielte auf einem Instrument, das ich vorher noch nie gesehen hatte. Und spielte voller Zärtlichkeit und Inbrunst.

Ich erschrak, denn seine Ähnlichkeit mit W. war verblüffend. Ich flüsterte A. ins Ohr, ob sie nicht auch finde, dass er W. zum Verwechseln ähnlich sieht. Seit der Trennung war ein Jahr vergangen. Und nun, vor meinen Augen ein Doppelgänger, nur jünger. Der Bart, die braunen Augen. Die Statur. Wie Vater und Sohn. Oder ein Bruder.

A. setzt sich auf eine Bank. Ich bewege mich wie in Trance auf ihn zu, bleibe vor ihm stehen und lausche dem Tanz seiner Hände. Als sein Spiel verstummt, sprech‘ ich ihn an, auf Englisch. Er heißt Leonardo Trincabelli, sagt er, er stammt aus Uruguay. Das Instrument, erklärt er mir, heißt Hang. Er spricht das Wort englisch aus. Seine Augen lächeln, er ist gesprächig.

Ich kaufe ihm eine CD ab und bleibe noch ein bisschen in seiner Nähe. Die Rückkehr nach Wien kann ich kaum erwarten. Ich will mich endlich satthören können.

© Sonja M. Winkler 2020-11-23

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