von Jonas Krämer
Hansi Heidelbeere flog auf ihrem Besen durch die Nacht, denn sie war Hexe von Beruf. Sie kam gerade von der Walpurgisnacht, bei der sie mit ihren Kolleginnen ums Lagerfeuer getanzt war. (Die Klamotten hatten sie entgegen manch anderer Berichte aber angelassen.)
Bisher war es ein ruhiger Flug gewesen. Doch nun braute sich vor ihr ein heftiges Unwetter zusammen. Am Himmel hingen Wolken, die so dunkel waren, dass sie sich sogar noch vor dem tiefschwarzen Himmel abhoben. Und aus den Wolken zuckten gewaltige Blitze.
Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, aber das Problem war, dass Hansi genau auf das Unwetter zusteuerte. Die ersten fetten Regentropfen trafen bereits ihre Nase. Sanft verlagerte sie das Gewicht zur Seite, um die dunkelsten Wolken zu umfliegen. Doch das erste Mal in den zweihundertdreißig Jahren, die sie nun schon flog, passierte nichts. Ihr Besen steuerte weiter auf das Unwetter zu.
„He!”, rief sie erschrocken. „Dreh ab!” Sie riss den Besen herum und stieß ihm den Fuß ins Reisig. Doch es war zu spät und sie schossen in die Gewitterwolke hinein.
Hansi schrie, während Blitze um ihre Ohren zuckten. Nach dem ersten Schrei standen ihre Haare zu Berge, nach dem zweiten waren ihre Fußspitzen angekokelt. Glücklicherweise regnete es fürchterlich, sodass die brennenden Schuhe rasch gelöscht wurden. Der Regen fiel so dicht, dass Hansi glaubte, aus dem Augenwinkel einen Forellenschwarm vorbeischwimmen zu sehen.
“Du verdammtes Ding! Ich ziehe dir die Borsten aus und verfeuere dich im Kamin, wenn du dich nicht bald benimmst!”
Und da begann der Besen zu allem Überfluss auch noch in der Luft zu bocken und Saltos zu schlagen. Hansis Handknöchel wurden weiß, als sie sich verbissen ans Holz klammerte.
“Warum tust du das?”, schrie sie ihn gegen den tosenden Wind an. “Was habe ich dir getan?”
Und da blieb ihr Besen plötzlich mitten in der Luft stehen und schüttelte sich, so als würde er schluchzen. Und da fiel ihr wieder ein, wie sie vor ein paar Stunden mit Tante Tusellda Tüdelü gesprochen hatte.
“Wenn du gerne reist und beim Fliegen nicht auf Komfort verzichten möchtest, leg dir einen Staubsauger zu! Das ist die neue Generation der Beförderung für Hexen!”, hatte sie gesagt. Dabei hatte Hansi doch eigentlich nur ein paar Tipps zum Austauschen des Reisigs haben wollen. Weil ihr Besen manchmal einen leichten Linksdrall hatte.
“Aber lieber Besen!“, sagte Hansi. „Ich will mir doch überhaupt keinen Staubsauger zulegen! Du hast mich doch bisher immer gut an mein Ziel gebracht! Es tut mir leid!”
Und tatsächlich! Der alte Besen setzte sich wieder in Bewegung, so schnell als wäre er noch ein junger Handfeger und brachte Hansi in Sekundenschnelle sicher aus dem Gewitter heraus und zurück nach Hause.
Auch alte Besen brauchen manchmal ein wenig Liebe.
© Jonas Krämer 2022-07-21