von Araldo Campana
Ein unheiliger Text wird das werden, obwohl und vielleicht sogar weil es Storys dieser Art auch in der Bibel gibt, Storys über Brüder.
Als ich damals als Erstgeborener das aufpassfähige Alter erreichte, hatte ich meistens meinen um vier Jahre jüngeren Bruder Markus an der Backe. “Araldo, nimm den Markus mit!”, flötete Mutter und so hing Markus wie eine lästige Klette an mir. Nichts von dem, was wir Älteren eigentlich machen wollten, war möglich, denn ständig war der kleine Spitzel dabei, der jedes Baumhaus oder Versteck seinen Altersgenossen verriet oder Schandtaten genüsslich den Eltern auf die Nase band. Das war unerquicklich und düngte in mir ungute Gefühlsbiotope, aus denen wie Giftblasen üble Ereignisse emporblubberten.
Da war zum Beispiel der Kochlöffel, in den Markus dummerweise mit seiner Kauluke lief. Das bereitete einigen seiner Milchzähne ein jähes Ende. Nachdem sie kariös waren, war der Verlust wohl zu verschmerzen. Nimmt man die Bilder von damals in die Hand, sieht er mit der Zahnlücke und den spitzen Resten der verbliebenen Beißerchen aus wie der Spross eines transsylvanischern Wiedergängers.
Dann war da auch die böse Geschichte mit dem Radiergummi, der auf der längeren, weicheren Seite rot und auf der kürzeren, härteren Seite blau gefärbt ist. Ja, Markus hat geschrien wie am Spieß, als ich versuchte, seinen Leberfleck auf der rechten Stirnseite mit dem blauen Radiergummiteil auszuradieren. Das war ein Spaß! Heute ist der Leberfleck verschwunden …
Die Geschichte mit der Kreuzigung sollte ich wohl besser nicht zu Papier bringen, wirft sie doch ein düsteres Licht auf mich, den perfiden Übeltäter. Als römisch-katholisch sozialisierter Ministrant war ich damals natürlich auch fasziniert von dem Mann am Kreuz und fantasierte womöglich in ruhigen Momenten auch von einer Mischung aus Schmerz und Lust. Und so nagelte ich in Opas Werkstatt ein Kreuz zusammen, richtete es auf einem Feld auf und hielt Ausschau. Ein Kreuzigungsopfer musste her! Ich fand es. Bingo! Es war der Markus, der alsbald ans Kreuz gebunden wie von Sinnen schrie, weil er von mir gekitzelt wurde, bis er nicht mehr wusste, ob er weinen, lachen oder in die Hose pissen sollte.
Den Vogel schoss ich allerdings mit unserem Cool-Runnings-Prequel ab. Wir hatten den Unterteil eines ausrangierten Kinderwagens organisiert. Darauf legten wir passende Bretter. Mit dem Gefährt sollte es – ohne Bremsen – einen abschüssigen Waldweg hinuntergehen. Der Pilot? Erraten! Markus! Damit er sicher war, band ich ihn mit Seilen auf die Bretter und erklärte, das wäre sozusagen sein Sicherheitsgurt. Eis, zwöi, drü und schon sauste er plärrend in den Wald, wo sich alsbald das Gefährt furchtbar überschlug. Als ich ihn losgebunden hatte und er mit zerschundenem Körper hinkend zuhause auftauchte, nahmen mir das die Eltern übel, sehr übel!
Happy End? Ja, denn Markus wurde groß und stark, später haben wir gemeinsam gebaut und wohnen heute friedlich im gleichen Haus.
© Araldo Campana 2020-11-24