Hasenbrot

Traude

von Traude

Story

Ich sitze in meinem kleinen Büro und mein Blick wandert beim Fenster hinaus zu den Weingärten, die unseren Ort umgeben. Plötzlich fällt mir auf, dass ein Weinbauer mit schwerem Gerät dabei ist, lange Reihen von Rebstöcken aus dem Boden zu reißen. Ein trostloser Anblick!

Meine Gedanken wandern zurück in meine Kindheit. In den Ferien begleitete ich oft meine Großeltern zur Arbeit in ihren Weingärten. Zu Fuß ging es hinaus aus dem Ort, die Hügel hinauf, durch einen nahezu zugewachsenen Hohlweg und schließlich einem schmalen Feldweg folgend zum Weingarten.

Dort wurden die mitgebrachten Rucksäcke in einer alten, windschiefen Hütte verstaut, Oma band sich die „Gugl“ als Sonnenschutz um den Kopf, Opa strich sein „Fürta“ glatt, das vorher mit einem Zipfel in das Bindeband geknotet war und sie begannen mit ihrem Tagewerk. Für mich bedeutete das die totale Freiheit. Ich kletterte auf den mächtigen Kirschenbaum, der am unteren Ende des Weingartens seine Äste dem Himmel entgegenstreckte, schaukelte mich an den Lianen der Waldrebe, lag im Gras und beobachtete Wolkengebirge und fühlte mich glücklich und geborgen im Einklang mit der Natur.

Nach einiger Zeit riefen mich die Großeltern zur Hütte. Jetzt kam der Höhepunkt meines Tages: die Jause. Oma packte sorgfältig die mitgebrachten Köstlichkeiten aus. Es duftete nach Speck, Schmalz, Paradeisern und selbst eingelegten Essiggurkerln. Ein Zeitungsblatt diente als Unterlage und jeder bediente sich großzügig. Aber das Beste an der Jause war das Hasenbrot. Opa holte seinen Taschenfeitel hervor, fuhr liebevoll mit einem Tuch über die Klinge, dann stellte er einen Laib Brot auf seinen Schoß und begann mit dem Messer Stück für Stück herunter zu schneiden. Früher wurde nur ein- oder zweimal in der Woche Brot gebacken und so waren diese Stücke hart und trocken. „Genauso muss es sein“ erklärte mein Opa mit geheimnisvoller Miene. „Das ist kein gewöhnliches Brot. Das ist Hasenbrot.“ Und er zeigte mir die ausgefransten Stellen im Brotlaib. „Da haben die Hasen daran geknabbert, während wir draußen gearbeitet haben.“ Voll Ehrfurcht nahm ich mein Brotstück und betrachtete es genau. Tatsächlich konnte man meinen, dass jemand an den Rändern genagt hatte. Stückchen für Stückchen brach ich ab und kaute es langsam und bedächtig. Welch herrlicher Genuss, gemeinsam mit all den anderen Schätzen. Es wurde nicht viel geredet während des Essens, wir genossen die gemeinsame Mahlzeit und das Zusammensitzen in der dämmrigen Enge der Hütte.

Während Opa schon wieder draußen weiterarbeitete, verpackte Oma die übrig gebliebenen Reste wieder in ihren Ranzen und ich stromerte wieder durch die Fluren. Erst als wir ganz leise die Kirchenglocken aus dem Ort hörten, packten wir zusammen und machten uns zu Fuß wieder auf den Heimweg. Denn so wollte es der Brauch: um 11.00 Uhr läuteten die Glocken, damit die Frauen wussten, dass es Zeit wäre für die Heimkehr. Das Mittagessen musste vorbereitet werden.

© Traude 2019-09-26