Hatschi Bratschis Schuld

Gabriela Rodler

von Gabriela Rodler

Story

1957 begann der Ernst des Lebens für mich – ich kam in die Schule.

Damals schrieb ich am Anfang noch mit Bleistift Buchstaben für Buchstaben. Zuerst nur Blockbuchstaben, später dann „Heinzelmännchen-Schrift“. Dann plagte ich mich mit Redisfeder und Tintenglas. Eine ewige Patzerei. Füllfeder gab es erst ab der zweiten Klasse.

Die gelernten Buchstaben setzten wir zu Wörtern zusammen. Das Lesen gestaltete sich zu einer mühevollen Suche nach den richtigen Buchstaben. Um die Nikolo-Zeit lernten wir das stumme H, für mich unverständlich. Da stand ein Buchstabe, der nicht gelesen wurde, aber unbedingt geschrieben werden musste.

Da meine Eltern berufstätig waren, verbrachte ich die Nachmittage in einem Halbtags-Internat. Das war eine Zweizimmerwohnung, in der viel zu viele Kinder auf engstem Raum beaufsichtigt wurden. Eine schlimme Zeit für mich.

Im zweiten Schulhalbjahr hatten wir das gesamte Alphabet gelernt und bekamen regelmäßig Leseaufgaben. Dazu bekamen wir Blätter ausgehändigt, auf denen Wörter aneinandergereiht waren, später auch kurze Sätze. Langweilig! Lesen interessierte mich nicht wirklich.

Eines Tages lasen wir in der Schule „Hatschi Bratschis Luftballon“. Ein Kinderbuch, heute rassistisch angezweifelt, aber vor über 60 Jahren war das noch nicht der Fall. Als Übung sollten wir zu Hause einige Seiten lesen. Ich sehe mich noch heute, wie ich im Internat auf meinem Platz saß und die Aufgabe las. Und plötzlich konnte ich nicht mehr aufhören – es war echt spannend, das Abenteuer des kleine Fritz. Der böse Zauberer Hatschi Bratschi, die Hexe Kniesebein und noch so manch anderer, aber zum Schluss das gute Ende.

Von diesem Zeitpunkt an las ich alles, was mir unter die Hände kam. Die Zeit im Internat wurde dadurch auch erträglicher. Zum Glück wurde mein Leseeifer von meinen Eltern unterstützt. Besonders von meiner Mutter, die auch das „Lese-Gen“ hatte. Weihnachten, Geburtstag, Schulschluss – es gab viele Gelegenheiten, zu denen ich Bücher geschenkt bekam. Besonders von mir geliebt war „Das bunte Buch“. Ein reich bebildertes Buch voller Märchen. Ich habe es heute noch, ein bisschen zerlesen, aber ich blättere immer wieder mal darin. Es blieb so manche Aufgabe für die Schule liegen, da ich mich von einem Buch nicht trennen konnte. Das passiert auch heute noch oft.

Lesen ist mein Hobby und ich möchte Loriot leicht abgewandelt zitieren: „Ein Leben ohne Bücher zu lesen ist zwar möglich, aber sinnlos.“

© Gabriela Rodler 2020-02-06