Hätte er doch nur auf die Sägespäne geachtet!

Heinz-Dieter Brandt

von Heinz-Dieter Brandt

Story

Er hing. Von der Decke. Und er war tot. Eindeutig. …

Sie waren echte Freunde, seit der Schulzeit, gingen gemeinsam durch “dick und dünn”, hatten fast die gleichen Zensuren, verliebten sich zur gleichen Zeit in Mädchen, trugen gegenseitig Patenschaften. Beide Familien waren wie eine Großfamilie. Nichts konnte sie trennen. Sie arbeiteten beide in der gleichen Firma … in einem Zirkus. Sie hatten nämlich beide die gleichen Merkmale: kleinwüchsig. Ihre Auftritte waren immer gefragt. Sie hatten sich akrobatische Kunststücke ausgedacht – allein oder zu zweit, diese gemeinsam eingeübt, gegenseitig Fehler benannt und gemeinsam ausgemerzt. Und sie waren clownesk. Nicht, dass sie unattraktiv aussahen, aber hinter ihren Grimassen und Kostümen wirkten ihre Auftritte immer komisch. Das Publikum brüllte vor Lachen. Sie waren die Attraktion im Zirkus. Ja, sie hielten zusammen wie „Pech und Schwefel“. Ihre einzige Sorge war, dass die Natur ein Einsehen haben und den Wachstumsprozess bei beiden oder einem wieder aufnehmen würde. Nein, sie durften nicht wachsen!

Wann der Riss zwischen ihnen sich auftat, bleibt unbestimmt. Dass er überhaupt auftrat, war ungewöhnlich. Aber Menschen verändern sich oder werden verändert. Der Prozess kam schleichend. Sie hatten zunächst wenig Zeit füreinander, wollten mal allein trainieren, warfen sich gegenseitig mangelnden Applaus des Publikums vor, verursachten bewusst oder unbewusst Fehler, beschuldigten sich dann gegenseitig.

Irgendwann machten sie Witze jeweils auf Kosten des anderen. Witze, die auch ernsthaft beleidigten. Schließlich gingen sie sich ganz aus dem Weg, traten nur noch gemeinsam in der Arena auf. Der wirkliche Knall kam, als bei Gehaltsabrechnungen einer sich übervorteilt fühlte. Ihre Leistungen waren gleich, doch durch einen Fehler in der Buchhaltung erhielt einer einen merklich niedrigeren Lohn. Der andere wollte das nicht auf sich sitzen lassen und schritt zur Tat.

Die größte Angst bei beiden war ja, sie könnten wieder wachsen. Das durfte nicht geschehen. Dann würde es mit den Vorstellungen vorbei sein. Als normale Menschen wären sie nahezu wertlos für den Zirkus. Ihr Lebenswerk wäre dahin, ihre Lebensfreude ausgelöscht. …

Als der “Besserverdienende” nach einem Auftritt seinen Wohnwagen betrat – sie wohnten seit geraumer Zeit getrennt – erschrak er fast zu Tode. Begann er tatsächlich größer zu werden? Er verließ den Wagen, dachte an optische Täuschung, betrat den Wagen erneut: kein Zweifel. Die Natur hatte ein Einsehen, ließ ihn wachsen. Seine Zukunft verschwand im Nebel. Das durfte nicht sein! Er war so mit dem Zirkus verbunden. Sollte das vorbei sein? Nächtelang lamentierte er, verließ seinen Zirkuswagen nicht, überlegte, kam auf keine Lösung, wurde schließlich immer depressiver.

Ihm blieb nur der Strick!

Und während der Rest des Lebens aus ihm wich, sah er die Sägespäne auf dem Fußboden.

Sein Kumpel hatte aus Ärger Stuhl- und Tischbeine gekürzt.

© Heinz-Dieter Brandt 2021-11-12

Hashtags