Hauptrolle

Florian Fleischhacker

von Florian Fleischhacker

Story

Ich bekam den Anruf an einem Freitagvormittag, im Jahr 2018. Im Theater-Ensemble einer meiner Lehrerinnen von der Schauspielschule, hatte sich die Hauptrolle vor wenigen Stunden bei einem Unfall verletzt. Sie suchten einen Ersatz für die nächste Vorstellung. Sie wollte wissen, ob ich Interesse hätte einzuspringen. Als junger Schauspielstudent war ich sofort begeistert von der Idee, in einem Theaterstück außerhalb unseres Ausbildungskosmos zu spielen und sagte zu. „Wann ist denn die nächste Vorstellung?“, wollte ich noch wissen, obwohl ich bereit war, alles andere dafür abzusagen. „Heute Abend. Wann kannst du hier sein?“

Das Kribbeln in meinen Fingern blieb bis zum Ende der Vorstellung. Ich lernte den Text auf dem Handy noch in der Straßenbahn. Sobald ich ankam, gab es keine Pausen mehr. Ich schlüpfte in das Kostüm und wir probten fast 9 Stunden.

Das Stück war ein modernes Tanztheater. Es gab Choreografien und Text. Wir kürzten so viel wie möglich, aber es lag noch immer ein 90-minütiger Theaterabend vor mir. Ich musste mir den gesamten Ablauf merken. Das Gefühl, das mich damals überkam, ist für mich heute nur noch schwer vorstellbar. Ich geriet in einen seltsamen Zustand des Funktionierens. Der Stress gepaart mit der Gewissheit, dass in wenigen Stunden um genau zwanzig Uhr dreißig auf dieser Bühne eine Theatervorstellung vor 200 Leuten mit mir in der Hauptrolle stattfinden würde, ließ mich eine ungeahnte Leistungsfähigkeit abrufen. Vielleicht haben sich römische Soldaten so gefühlt, nachdem ihre Heerführer die Brücken hinter ihnen in Brand gesetzt hatten.

Bereits nach den ersten Stunden korrigierte ich die Textfehler meiner Kollegen. Ich konnte nicht anders. Ich merkte mir die Schritte und wenn wir nicht probten, ging ich alles leise murmelnd noch einmal durch. Es war mir unmöglich aufzuhören. Ich erinnere mich an eine Diskussion zwischen einem Choreografen und der Regisseurin. Er war gekränkt, dass sie einen seiner Tänze strich. Sie wollte es mir so einfach wie möglich machen, aber er verstand das Problem nicht. Sie stritten. Er tat mir so leid, dass ich seine Choreografie lernte.

Ich verlor jegliches Zeitgefühl. Irgendwann wurde ich geschminkt und dann zum richtigen Bühneneingang geführt. In Gedanken, immer beim Ablauf. Dann ging das Licht aus und Stille machte sich breit. In diesem klaren Augenblick zerbarst ich fast vor Anspannung. Einen Auftritt später war ich völlig im Stück verschwunden.

Ich machte keinen einzigen Fehler. Jeder Schritt und jedes Wort war wie wir es geprobt hatten.

Da ich so beschäftigt gewesen war und mein Handy in der Garderobe lag, hatte ich völlig vergessen, jemanden Bescheid zu geben. Niemand wusste von meiner Leistung. Weder Freunde noch Familie. Vom Ensemble war an diesem Abend kein Fotograf anwesend.

Am nächsten Tag schrieb mir die Regisseurin, dass ihr Hauptdarsteller fit genug sei, um die nächste Vorstellung wieder selber zu spielen. Ich wurde nicht mehr benötigt.

© Florian Fleischhacker 2022-08-30