Hausnummer 53

Theodor Leonhard

von Theodor Leonhard

Story
1989

„Unser Haus hat die Nummer 51!“ Selten nur sah ich einen Menschen so fassungslos wie Herrn Fuchs, dem diese unglaubliche Information schier den Boden unter den Füßen wegzog. „Das ist unmöglich!“, stammelte er mehr vor sich hin, als dass er sich an uns wandte. Was hatte den Leiter des Standesamts im Dorf so sehr aus der Fassung gebracht, dass er hinter seinem Schreibtisch immer kleiner wurde?

Meine Mutter wohnte die letzten drei Monate ihres Lebens gemeinsam mit meinem Vater bei uns. Mit einer hoffnungslosen Krebsdiagnose war sie aus der Klinik entlassen worden. Es war für uns alle eine anstrengende, aber auch eine erfüllende Zeit.

Nachdem meine Mutter gestorben war, musste ihr Tod beim Standesamt angezeigt werden. Mit meinem Vater machte ich mich auf dem Weg zum Rathaus. Herr Fuchs, der Leiter des Standesamts, hat uns sehr einfühlsam empfangen und mit uns gesprochen. Dann leitete er über zu den unvermeidlichen Formalien. Name, Geburtsname, Vorname, eventueller zweiter Vorname, Hochzeitsdatum, Erster Wohnsitz, Sterbetag, Sterbeort. Alles hat er genauestens nachgefragt und gegebenenfalls durch beglaubigte Urkunden überprüft. Fast alles hat er genauestens nachgefragt. Die Adresse des Sterbeorts war ihm vertraut. Schließlich wohnte sein Onkel, unser Nachbar zur Rechten, im Haus mit der Hausnummer 55. In diesem Haus ging er fast täglich, spätestens jeden zweiten Tag, aus und ein. Also war völlig logisch, dass wir, die Nachbarn seines Onkels zur Linken, die Nummer 53 an der Hauswand hatten.

Fein säuberlich trug er die Informationen mit einem Füllfederhalter ins offizielle Buch mit den Sterbefällen ein und erzählte uns dabei, dass in diesem Buch unter keinen Umständen etwas verändert oder verbessert werden darf, was einmal geschrieben stand. Auf jedem Blatt könnten vier Sterbefälle eingetragen werden, zwei auf der Vorder- und zwei auf der Rückseite. Meine Mutter sei der vierte Sterbefall, Rückseite unten.

Weil es ausdrücklich so vorgeschrieben war, legte Herr Fuchs uns seinen Eintrag zur Unterschrift vor und bat uns zu bestätigen, dass alle Informationen korrekt seien. „Stimmt fast alles“, bestätigte ich ihm gern. „Nur hat unser Haus die Nummer 51!“ – „Das ist unmöglich!“ Die Farbe war Herrn Fuchs aus dem Gesicht gewichen. Wie konnte es so weit kommen? War es der große Garten um unser Haus, der mit einer eigenen Hausnummer gewürdigt war? Oder war es die Scheune neben dem Haus unserer Nachbarn, die die Nummer 53 trug?

„Meinetwegen kann die Nummer 53 stehen bleiben. Meiner Mutter wird die Hausnummer egal sein, hinter der sie gestorben ist und meinem Vater auch“, schlug ich vor. – „Ein Fehler im offiziellen Sterbebuch. So etwas kommt überhaupt noch infrage“, wies der Standesbeamte meinen Vorschlag zurück. Stattdessen trennte er perfekt das Blatt mit den inzwischen vier Einträgen von Verstorbenen rückstandslos heraus und schrieb auf das nächste Blatt (Rückseite unten natürlich) noch einmal die Informationen über meine Mutter. „Da müssen die Angehörigen der anderen drei Verstorbenen eben nächste Woche noch einmal zum Unterschreiben kommen!“

© Theodor Leonhard 2024-05-04

Genres
Humor& Satire, Biografien
Stimmung
Herausfordernd, Emotional, Komisch, Traurig
Hashtags