Heimat

Annika Sinner

von Annika Sinner

Story

Wenn mich jemand fragt, woher ich komme, lüge ich. Sofern man die geografische Verschiebung der eigenen Heimat um fünfzig Kilometer wirklich als Lüge bezeichnen kann. Denn es fühlt sich nicht an wie eine Lüge, es ist vielmehr die gefühlte Wahrheit. Noch immer fahren Freundinnen und Freunde, die ich aus dem Studium kenne, regelmäßig zurück in die Heimat, wie sie es nennen. Sie erzählen von ihren Schulfreunden, Dorffesten, Sommerabenden am See, dem ersten Kuss und dem ersten Verliebtsein. In Lars, den Abiturienten, der schon ein Auto hatte und bei seinen Eltern in der Einliegerwohnung wohnte, sodass sie es nicht mitbekamen, wenn er nachts betrunken oder in Begleitung war. Sie erzählen, wie sie bis morgens um sieben Korn in der einzigen Dorfkneipe tranken, die extra für sie länger geöffnet hatte und dann auf den Tischen einschliefen.

Andere flüchten sich zwischen Hogwarts-Pullovern und Disney-Liedern noch weiter zurück in die Kindheit. In eine Zeit, in der die Welt in den Fugen und Wahrheiten noch einfach schienen. In der in Filmen und Büchern noch Magie steckte, in der eine Urlaubsfahrt oder der eigene Geburtstag Vorfreude auslöste, wie sie sie nur noch aus Erinnerungen kennen.

Ich kenne solche Erinnerungen nicht. Alles Schöne aus meiner Kindheit scheint überschattet von einer Schwere. Von Angst und Selbsthass, von dem Gefühl, nie gut genug und im Innersten falsch zu sein. Dort, wo kindliche Leichtigkeit und Nostalgie sein sollten, verfolgt mich ein und derselbe Traum. Ich bin in meinem alten Zimmer und habe schreckliche Angst, zu schlafen. Ich kann mich nicht entspannen, mich nicht geborgen fühlen, da es keinen Ort gibt, der mich mehr einzuengen scheint. Es ist nicht nur mein Zimmer, sondern auch jenes meiner Ängste, meiner Zweifel, meiner Fehler. Seine Verbindung mit mir macht aus dem liebevoll gestalteten Raum ein Gefängnis.

Das schummrige Licht der Deckenlampe soll die Geister der Dunkelheit vertreiben, doch stattdessen scheint es die hässlichen Ecken nur noch aus, gibt den verzerrten Fratzen meiner Angst eine Bühne. Ununterbrochen suche ich nach einem Fluchtweg und muss mich zügeln, nicht zu rennen. Erst als mir Flügel wachsen und ich aus dem Dachfenster fliege, hektisch mit den Armen in der Luft rudere, um nicht abzustürzen, kann ich wieder atmen. Und erst, wenn ich aufwache und mir bewusst wird, kein Kind mehr zu sein, geht die Angst zurück.

Zwischen meiner Kindheit und meiner Gegenwart stehen die Erinnerungen aus meinem neuen Zuhause. An die langen Abende am Flussufer, an die Partys oben auf dem Dach vom Studentenwohnheim, die Reisen mit meiner besten Freundin. Die erste Reise allein. Die erste Liebe. Jene Ereignisse, die man in der Jugend, an dem Ort, den man Heimat nennt, verordnen sollte und nicht an seinem Studienort. Deshalb ist meine Antwort auf die Frage, woher ich komme, keine gefühlte Lüge. Sie ist, mit alldem, was wir für gewöhnlich mit Heimat verbinden, wahrer als die offizielle Version.

© Annika Sinner 2021-05-12

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