von Daniel Selent
Ulrich verließ die Gastwirtschaft als letzter. Fröstelnd stand er am Fuß der brüchigen Treppe und blickte auf die verlassene Dorfstraße hinaus, die vom undurchdringlichen Nebel verzehrt wurde. Das Laternenlicht verwandelte sich darin in schimmernde Geister.
Schwankend setzte der Mann sich in Bewegung, nachdem er die Rechnung grunzend in die Tasche gesteckt und sich die Lederjacke übergeworfen hatte. Es war eine kalte Herbstnacht und die Feuchtigkeit in der Luft sammelte sich in Perlen in seinem schütteren Haar. Ulrich torkelte, wie auf dem Deck eines einmastigen Schiffes, den Fußgängerweg entlang und blies sich nach Alkohol stinkende Luft in die reibenden Hände. Knorrige Bäume glitten an ihm vorbei.
Zähneklappern klickte in seinem Schädel, eine Gänsehaut ließ die Haare in seinem Nacken aufrecht stehen. Ulrich dachte, dass die alte Weisheit über Alkohol im Bauch nicht stimmte, dass er einen Menschen in einer frostigen Nacht nicht wärmte. Er ging etwas schneller, um sich aufzuwärmen.
Auf unsicheren Beinen passierte er den Friedhof, die Kirche und den Dorfplatz, sein Schatten wurde im weichen Licht der Laternen mal länger, dann wieder kürzer. Dazwischen herrschte Dunkel, und am Ende dieser Licht-und-Dunkelheit-Kette wartete sein warmes Bett auf ihn. Ulrich freute sich schon, das Wohnhaus hinter der Grundschule zu erreichen.
Ulrich hing seinen wirren Gedanken nach, badete im elektrischen Silberlicht der Straßenbeleuchtung, als er plötzlich Schritte hinter sich stapfen hörte. Unvermittelt blieb er stehen, stirnrunzelnd, denn Ulrich war es gewohnt, die einzige Person hier draußen zu sein, wenn sich die Türen des Gasthauses schlossen. Niemand verließ sein Heim nach Mitternacht.
Er warf einen überraschten Blick zurück, beschleunigte dann seinen Schritt und ging weiter die Straße entlang, die Hände in den Achselhöhlen vergraben. In seinem Schädel arbeitete es, denn er kam nicht um die Absonderlichkeit herum, die ein zweiter Spaziergänger um diese Uhrzeit darstellte. Ulrich blieb unter der nächsten Laterne stehen. Außerhalb des Lichtkegels ragte eine schwarze Wand auf, und die Schritte verhallten ein paar Meter vor dem Lichtkreis, in dem Ulrich stand.
„Ralf, bist du das?“ Ulrich hob zögernd die Hand zum Gruß. Hat deine Frau dich wieder auf die Palme gebracht, dass du dich verkrümeln musst?“ Er lachte nervös.
Jenseits der Laterne erklang ein dunkles, bösartiges Männerlachen. Ulrich wich einen Schritt zurück, die Gänsehaut kehrte zurück. Das Lachen kam näher, Ulrich machte einen weiteren Schritt, hinaus aus dem Lichtkreis. Etwas an diesem Lachen trieb Ulrich voran, machte ihn sprachlos, und ohne auf eine Antwort zu warten, stürmte er die Straße entlang in Richtung Schule. Plötzlich packte ihn eine Schraubstockhand an der Kehle, riss ihn herum und im nächsten Moment lag Ulrich im Schatten des Straßenrands am Boden. Sternen- und Mondlicht blitzte über ihm, und ein Gesicht.
„Du“, keuchte Ulrich, dann wurde alles schwarz.
© Daniel Selent 2023-07-20