Heine, Picasso, Kafka und ihre Ticks

Hannes Stuber

von Hannes Stuber

Story

[1993] Mit einem Zwischenstopp in London war ich von Wien nach Dublin geflogen, um ein Treffen Tausender junger Leute zu besuchen, das Rainbow Gathering in den Wicklow Mountains. Den Rest des Weges wollte ich per Anhalter zurücklegen. Zuerst nahm mich eine freundliche Dame mit, die viel redete, danach ein Pfarrer, der noch mehr redete. Er freute sich, einen Gesprächspartner zu haben. Er wollte nur kurz etwas mit seiner Köchin besprechen, und wenn ich wartete, könnte ich ein Stück weiter mit ihm fahren, sagte er.

Er hielt vor seinem Haus und führte mich durch einen Flur, an dessen Wänden Bilder von Päpsten hingen, in eine große Küche und verließ den Raum. Ich sah mich um. Irgendwas an der Atmosphäre, dem Licht, den Möbeln, der Wanduhr war seltsam. Noch nie war ich in einer irischen Pfarrersküche gesessen. Es roch nach Bohnerwachs und frischem Apfelkuchen.

Und eine Uhr tickte laut. Pausenlos! Ein Tick-Monster! Ich erinnerte mich. Auch Heinrich Heine hatte das nervende Ticken einer Uhr nicht ertragen können. So wie ich. Zeit meines Lebens verbannte ich jede tickende Uhr aus meiner Umgebung, sofern es möglich war. Hier war es nicht möglich. Vielleicht ging diese Überempfindlichkeit auf jene ewig tickende Schwarzwälder Pendeluhr zurück, die in der Wohnküche meines Elternhauses hing und mich viele Jahre begleitete, auch wenn ich krank war, Fieber hatte und auf der Couch lag. Das Ticken war immer da und bohrte sich in mein Hirn.

Ich dachte an das Ticken und die Ticks gewisser Künstler. Heine schrieb die schönsten Gedichte, aber ergriff die Flucht, wenn irgendwo eine Uhr tickte. Ich konnte ihn gut verstehen, auch die schrägen Schrullen anderer kreativen Menschen. Georges Braque etwa spielte Akkordeon auf dem offenen Oberdeck des Pariser Doppeldeckerbusses und sang für die Passanten. Gerard de Nerval führte einen Hummer an der Leine, wenn er durch die Pariser Tuilerien spazierte. Salvador Dalí imitierte das und fuhr, mit einem Dachs an der Leine, in der Metro.

Zur Zeit der Blauen Periode ging Pablo Picasso nie ohne seine Browning aus, und wenn ihn jemand belästigte oder gar etwas Schlechtes über Apollinaire sagte, schoss er in die Luft. Wenn er einen schlechten Film im Fernsehen sah, erschoss Elvis Presley mit einer Pistole seinen TV-Apparat; und kaufte einen neuen. Franz Kafka hatte eine Phobie, er fürchtete sich vor Schnee. Und machte nackt Gymnastik vor dem Fenster, außer wenn es draußen schneite. Reinhold Messner hatte keine Probleme mit Schnee und watete meterhoch durch diesen, aber er lernte nie schwimmen.

Irgendwann schreckte ich aus meinen Gedanken auf. Die Uhr tickte noch immer. Natürlich. Eine gefühlte halbe Ewigkeit saß ich in der Pfarrersküche fest. Die Pendeluhr gab den Ton und den Takt an. Sie nervte. Ich starrte sie gebannt an. Tick, tack. Tick. Endlich kehrte der fröhliche Pfarrer zurück und entschuldigte sich für die lange Abwesenheit. Ein Stück fuhr ich noch mit ihm, ehe er mich absetzte. Nun war es nicht mehr weit zum Rainbow Gathering. Das letzte Stück ging ich zu Fuß.

© Hannes Stuber 2020-07-30