Heiser – Awareness

Erdim Özdemir

von Erdim Özdemir

Story

Grey’s Anatomy? Irgendeine Medizinserie dümpelt auf dem Bildschirm vor sich hin. Eine Person im Kittel plus eine weitere mit aufgerissenem Mund befinden sich im Untersuchungszimmer. Mit Hängen und Würgen drückt der Arzt einen Mundspatel gegen die Zunge, die der Schwerkraft trotzen will.

,,Wieso höre ich auf diesem Bildschirm nichts?“, wundert sich der Wachmann. Bis die Ruhe letztlich durch die Worte des Arztes unterbrochen wird und ein röchelndes Würgen ein Echo entsendet.

,,Dysphonie. Wie der Silbermond-Song. Das bedeutet, dass Sie heiser sind. Auf medizinischer Klugscheißer-Sprache. Da haben Sie Ihr Stimmorgan in letzter Zeit wohl überlastet. Hm?” Der Arzt blickt zögernd noch tiefer in den Rachen der Person und invadiert mit einer Stirnlampe den Hals.

,,Ach du Scheiße. Was heißt hier ,,in letzter Zeit”? In den letzten Jahren! Halleluja, das grenzt an ein Wunder, dass es zu keiner Aphonie ausgeartet ist. Klugscheißerisch für Stimmlosigkeit. Stimme schonen und hier ein beliebiges Medikament! Und Kamillentee und irgendetwas mit Salbei schlucken.”

Vehement schüttelt der Patient den Kopf. Mit seinen Lippen formt er Laute, die der Arzt nicht versteht, aber der Wachmann entschlüsselt.

,,Ich brauche etwas Stärkeres. Ich darf nicht stumm sein. Laut. Ich muss weiterhin laut sein, um gehört zu werden. Um auf mehr Aufmerksamkeit aufmerksam aufmerksam zu machen!” Er schüttelt den Kopf. Unaufhörlich.

,,Ich bin heiser, weil ich laut sein musste – weil manche es nicht für sich und andere sein können. Ich wollte nie stumm sein. Zu oft tat es weh, zu hören – ich wäre nicht der Deutsche. Ich wäre anders. Kein Teil von dem Ganzen, in dem ich lebe. Kein Teil dieser Gesellschaft. Zu oft tut es weh, zu denken, mich erwarten unüberwindbare Grenzen. Zu oft tut es weh, zu hören, andere schaffen es über keine Grenzen. Andere werden ausgegrenzt, verbarrikadiert – nicht nur aus der Gesellschaft, sondern aus dem Leben. Wir brauchen mehr Stimmen, die sich zu einem Megafon einen und mit der Symphonie der Awareness auf die Kakophonie der intersektionalen Diskriminierungen aufmerksam machen.”

,,Ähm. Ich habe nicht so viel Zeit, es warten weitere Patienten da draußen. Was wollen Sie von mir?“

Das Rezept wird zerrissen, die fehlende Stimme des Frusts braucht keinen Salbei. Sie appelliert an das Bewusstsein derjenigen, die nicht heiser sind, sondern blind und gehörlos.

So oft war auch er bei der Sehkontrolle, da er sich selbst einem Schwindel unterzog, um all die Feuer um ihn herum nicht zu sehen. Stattdessen bildete er sich mit verschlossenen Augen ein, ein nettes Lagerfeuer zu genießen. Doch blindlings lief er ins Feuer und verbrannte sich. Sein Schmerzensschrei hallt immer noch in ihm und die Narben des Feuers, die Flammen des Rassismus, brandmarken sein Herz. Er konnte nicht mehr wegsehen, er konnte nicht mehr leise sein. Und wenn ihm die Stimme versagt, dann wird er schreiben. Wie er es jetzt tut, auf den Schnipseln des Salbei-Rezepts.

© Erdim Özdemir 2022-03-29

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