Heldin

Lilly Frost

von Lilly Frost

Story

Vor ein paar Tagen bin ich über einen Schulaufsatz meiner Tochter L. gestolpert. Als ich die Zeilen überfliege, huscht ein Lächeln über mein Gesicht. Nicht nur, weil sich die Rechtschreibung meiner Legasthenie-geplagten Tochter seit damals enorm verbessert hat, sondern weil sie über mich geschrieben hat. Das Thema lautete: Meine Mama – Meine Heldin.

Unwillkürlich frage ich mich, ob ich dem, was meine Tochter da beschreibt, in all den Jahren wirklich gerecht werden konnte. Immer ein Lächeln auf den Lippen. Geduldig (ist im Grunde keine meiner Stärken). Stets Zeit zum Reden. Problemlöserin. Lehrerin. Köchin. Wunden-Versorgerin. Termin-Managerin. Bei einem Satz muss ich herzhaft lachen, denn darin erkenne ich mich sofort wieder.

„Kämpft für uns wie eine Löwin.“ Da ist was dran. Mit mir mag man sich nicht anlegen, wenn es um meine Kinder geht.

Heute ist es umgekehrt. Heute ist L. meine persönliche Heldin. Meine Tochter hat schwere Zeiten durchlebt. Selbstverletzung. Selbsthass. Identitätskrise. Wie schwer muss es für sie gewesen sein, anders zu sein und zu spüren, wie sie aneckt, wie sehr sie polarisiert? Wie gerne hätte ich ihr ihren Kummer in den schwierigen Jahren der Pubertät abgenommen! Oft ist es mir damals nicht gelungen, zu ihr durchzudringen. Wie sehr habe ich mich gesorgt, dass sie sich etwas antut. Etwas Endgültiges. Die Hilfe, die wir ihr anboten, konnte sie damals nicht annehmen.

Mit Argusaugen habe ich jede neue Verletzung registriert und mir manchmal die Zunge abgebissen, sie nicht jedes Mal von Neuem zu konfrontieren. Zu akzeptieren, dass sie nur so den inneren Druck abbauen konnte. Wie sehr habe ich die Lehrer im Gymnasium manchmal gehasst. Dafür, dass sie mein Kind vorgeführt haben. Dass sie ihre Narben und frischen Wunden vor versammelter Mannschaft zeigen musste. Wie oft war ich deswegen in der Schule und habe versucht, sie zu schützen.Damals fühlte ich mich nicht als Heldin, sondern als Versagerin.

Nicht nur einmal raste ich von der Arbeit nach Hause, wenn ich L. über Stunden nicht erreichen konnte oder weil eine ihrer Freundinnen mich anrief, die sich um sie sorgte. Irgendwann sagte ich ihr, dass ich am Ende sei. Ich hätte begriffen, dass ich nichts, aber auch gar nichts dagegen tun könnte, wenn sie nicht leben wollte. Ich sagte ihr, dass ich sie liebte und immer für sie da wäre, aber dass ich einfach nicht wüsste, was ich noch tun sollte.

Von da an ging es aufwärts. Als hätte das Gespräch einen Schalter umgelegt. Von Monat zu Monat wurde sie stabiler und ausgeglichener. Mit fünfzehn outete sie sich. Ein weiterer Befreiungsschlag!

Ende September hat sie als Gesundheits- und Krankenpflegerin diplomiert. Ich sehe eine starke junge Frau, die sich nicht verbiegen lässt, um anderen zu gefallen, die genau weiß, was sie will. Sie ist meine persönliche Heldin. Eine, die auch heute immer wieder mal kämpft – aber nicht mehr gegen, sondern für sich!

© Lilly Frost 2020-10-22

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