Helsingør, Dänemark (2)

Günther Stark

von Günther Stark

Story

Liebe Isolde! Wie ich dir gestern schrieb, hatte ich der Frage nach dem Geist in der Welt weiter nachgehen wollen, doch kam es nicht dazu. Ich hatte noch keine zwei Stunden geruht, als vor meiner Kammer Schritte laut wurden, dann klopfte es an der Tür. „Poch, poch!“, klang es wie das Pochen meines schlechten Gewissens wegen der verheimlichten Ankunft.

Ich öffnete und stand gegenüber Marcellus, einem der Edelleute der Wache, den ich von früher her kannte. Nicht dass ich ihn gerade einen Freund nannte, doch standen wir miteinander auf bestem Fuß. Wir umarmten uns wie alte Waffenbrüder. Ich wollte fragen, was mir die Ehre so rascher Begrüßung verschaffte, aber der alte Haudegen kam mir zuvor. Nichts für ungut, sagte er, er habe mich nicht um die verdiente Ruhe nach der Ankunft bringen wollen, doch sei die Sache von so extremer, so außerordentlicher Wichtigkeit, dass sie keinen Aufschub dulde. Ich nickte.

Er hatte schon zwei Tage mit seinem Partner auf der Wache, Bernardo, beratschlagt, wem sie etwas so Ungeheueres und Bedrückendes anvertrauen sollten – denn das sei es, ebenso ungeheuerlich wie bedrückend! –, doch waren sie teils aus Scham, teils aus Furcht zu keinem Entschluss gekommen. Als sie aber heute unterderhand von meiner Ankunft hörten, sei ihnen gleich klar gewesen, dass sie dazu keinen Besseren als mich finden konnten.

Geheimnistuerei war ich von beiden nicht gewohnt. Worum es also ging? wollte ich wissen.

„Ein Gespenst“, versetzte er, und seine Stimme zitterte.

„Was?“ Ich glaubte nicht recht zu hören.

„Ein Gespenst“, wiederholte er. „Auf der Terrasse des Schlosses. Ein Geist geht um auf Helsingør.“

Ha, und das bei zwei so gestandenen Männern! Hatte ich mir unter der Frage nach dem ‚Geist‘ soeben doch noch etwas ganz anderes vorgestellt!

„Ha“, lachte ich, „ihr habt wohl zu tief in die Hochzeitsbecher geschaut!“

Er blieb aber seltsam sachlich. Die Wachen auf dem Schloss, sagte er, waren letzthin der Umtriebe des jungen Norwegers Fortinbras wegen verstärkt worden. Zwei Nächte! Zwei Nächte nacheinander war es den beiden auf der Schlossterrasse, in toter Stille tiefster Mitternacht, so widerfahren:

Eine Art körperloser Schatten oder Schemen, aber im Harnisch, von Kopf bis Fuß in Waffen, erscheint vor ihnen, schreitet mit ernstem Tritt und stattlich vor ihnen auf und ab; schreitet dreimal, ja dreimal, vor ihrem starren furchtergriffenen Blick, in Reichweite seiner Hellebarde, langsam vorbei, währenddem sie, aus Furcht fast zu Gallert geronnen, stumm stehen und keiner Regung fähig. Auch habe es der Respekt vor der gewesenen Majestät verboten, mit der Hellebarde nach ihm zu schlagen.

Mir fehlten die Worte: und das bei zwei so gestandenen Typen, psychedelische Drogen konnten sie nicht genommen haben. Ich sagte dir ja schon oft, der Wechsel vom aufgeklärten Wittenberg nach Helsingør ist jedesmal wie der Übergang von der Neuzeit ins Mittelalter. Und siehst du: Kaum zwei Stunden da und schon kam man mir mit Gespenstern!

© Günther Stark 2021-03-07

Hashtags