Herr Professor

Sonja M. Winkler

von Sonja M. Winkler

Story

Der Wikipedia-Eintrag von Hans Ernst Pinsker ist knapp. Er enthält Geburts- und Sterbedatum (1909 – 1987), Funktion (österreichischer Anglist, Lehrstuhl für Sprachwissenschaft an den Universitäten Graz und Wien) und ein paar Publikationen.

Lieber Herr Professor, einige Jahre nachdem Sie sich für immer verabschiedet hatten, wollte ich Sie auf dem Hadersdorfer Friedhof besuchen. Dort nämlich hatte unsere letzte Begegnung stattgefunden. Laut Tagebucheintrag war es der 2. Juni 1987.

Als ich ein Schauferl Erde und eine Rose auf den Sarg in der Grube warf, in dem Ihre sterblichen Überreste lagen, da gingen der Franzi die Nerven durch. Vor allen versammelten Trauergästen machte sie mir eine Szene, weil ich mich angeblich nicht genug um Sie gekümmert habe. Ich wusste nicht, dass es so schlimm um Sie stand. Natürlich hätte ich Sie im Spital besucht. Wir hätten noch einmal gemeinsam im Beowulf lesen können oder an einem der altenglischen Rätsel tüfteln.

Ihre Lunge war angegriffen. Damit haben Sie jedoch gerechnet. Sie waren ja zeitlebens ein starker Raucher. Ich rief Sie mehrmals an und lud Sie zu mir ein. Ohne einen Deut von Peinlichkeit kam Ihre Antwort: Aufgrund von Harninkontinenz müssten Sie Besuche ausschlagen. Und dann die Todesanzeige. Lungenemphysem, sagte die Franzi.

Ja, ich verdanke Ihnen unendlich viel. Sie haben mich unter Ihre Fittiche genommen, damals. Sie hatten den Ruf, ein schrulliger und launischer Professor zu sein. „Der Pinsker“ war Pars pro Toto für alle sprachwissenschaftlichen Hürden, die im Anglistik-Studium genommen werden mussten. „Der Pinsker“ sei kaum zu schaffen, ging das Gerücht. Papperlapapp! Ich würde mit Wissen glänzen. Das hatte ich mir vorgenommen. Und so bahnte sich ab dem Wintersemester 1975 eine eigenartige Beziehung zwischen Professor und Studentin an. Sie waren Vater-Ersatz, Mentor und Förderer. Meine Tagebuchaufzeichnungen von damals sprechen Bände.

Sie boten mir das Du-Wort an, aber ich lehnte ab. Ich sagte gern „Herr Professor“ zu Ihnen. Sie aber duzten mich, sagten Sonjutschka, fast zärtlich. Ich saß stundenlang bei Ihnen im Kammerl, im 2. Stock des NIG. Wir lasen Beowulf und Chaucer. Sie ließen mich seitenweise übersetzen. Sie erklärten mir Stabreim, Runen und vieles andere. Ich verdanke Ihnen einen Großteil meines Wissens.

Sie erzählten mir von Ihrer Lebensgefährtin Franzi, die Ägyptologie studierte, und Ihrem Sohn, einem Naturwissenschaftler, mit dem aber kein Kontakt bestand. Ich erfuhr, dass Sie mit Franzi in einem Gartenschuppen lebten, nicht präsentabel. Sie waren ein Außenseiter in akademischen Kreisen.

Sie hatten nur weibliche Assistentinnen. Ich sprach Sie einmal daraufhin an. Sie gaben zu, unter Männern nicht zu reüssieren. Einmal versuchten Sie mich zu küssen. Es gelang Ihnen nicht.

Lieber Herr Professor, Wikipedia weiß nichts über Sie. Ich hingegen weiß so vieles, dass ich sogar ein paar delikate Geheimnisse mit ins Grab nehmen werde.

© Sonja M. Winkler 2020-07-04

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