Herz

walter reichel

von walter reichel

Story

Der Arzt reichte mir das Stethoskop. Und aus der Tiefe unter der Bauchdecke hörte ich zum ersten Mal das Herz des Kindes schlagen. Es war mir, als hätte ich erst jetzt allen Grund, an das Leben zu glauben, nicht nur an dieses eine, in Wärme und Wonne schwimmende Leben, das noch nicht aus seinem Paradies vertrieben worden war, sondern an die unbeirrbare Lebendigkeit dieser Welt, die ein staubgeborener Stern ist.

Das Herz schlug rasend schnell (ganz normal für einen Fötus, sagte der Arzt mit beruhigender Stimme), ein Rhythmus, den ich beim Verlassen der Klinik sofort wiedererkannte. Er tönte aus dem offenen Fenster eines vorüberfahrenden Autos, das ein Jugendlicher lenkte: hart, heftig, mitreißend, heiß und leidenschaftlich. Vielleicht suchen wir ja diese ferne Erinnerung an ein verlorenes Paradies beim Tanz in rauschhaften und ohrenbetäubenden Nächten inmitten verrenkter und verschwitzter Leiber. Ich konnte nicht stehen bleiben, nicht gehen, nicht in meinem Auto sitzen, ich lief, lief aus der Stadt, über Wiesen, querfeldein. Ich lief im Takt fötaler Herzschläge, lief ohne zu ermüden. Ein Frühlingsabend leuchtete über den Feldern.

Und am Horizont erschienen im Gegenlicht der Abendsonne die wirbelnden Arme tanzender Windräder hoch über einer Herde von Schafen, die so still auf der Wiese standen, als wären alle ihre Seelen von einem Wiegenlied betört. Ich lief mühelos mit schwebenden Schritten unter den kreisenden Flügeln hinweg, die den Wind in Strom verwandeln und mitten durch die regungslos träumende Herde, und immer weiter, bis es endlich dunkel wurde, dann wandte ich mich um, lief zurück, und statt der Sonne rollte dort oben nun der volle Mond voran, groß, rund, rotglühend wie eine Kochplatte im schwarzen Ceranfeld des Himmels.

Noch eine Untersuchung, nur wenige Tage vor dem errechneten Geburtstermin. Ich sehe, wie der Arzt die Stirne in Falten legt. Er lauscht besorgt, zutiefst erschrocken: Der Herzschlag setzt aus. Einige Sekunden Stille. Dann endlich wieder das rasende, ums Leben kämpfende Pochen des Herzens, erneuter Stillstand…

Es kann sein, meint der Arzt, dass sich die Nabelschnur um den Hals gelegt hat.

Zwei Stunden später, zwei Stunden, die nichts anderes sind als ein schwarzes Loch in meiner Erinnerung, halte ich meinen Sohn in den Armen. Sein Herz schlägt, er atmet ruhig und ist sichtlich damit zufrieden, dass er das Licht der Welt nicht durch eine Geburt, sondern durch einen Kaiserschnitt erblickt hat.

© walter reichel 2022-03-28

Hashtags