Herzmuschelscherbe

So_Yellow_

von So_Yellow_

Story

„Letzten Endes sind wir alle nur kaputte Existenzen.“

Erwachsen, aber viel zu oft mit den Gedanken eines jungen Menschen ausgestattet. Mit Unsicherheit. Mit Träumen, die sich durch das Hamsterrad nicht erfüllen lassen, weil die Zeit fehlt. Mit einer Liebe, die im Alltag untergeht oder Schulstress der Kinder. Oder alleine voller Sehnsucht. Wenn auf der Arbeit alles gut läuft, fällt garantiert ein Baum im Hof um und kracht ins Fenster. Nie ist alles perfekt. Wenn die Liebe da ist, fehlt das Geld und umgekehrt. Hüpft man glücklich die Treppe herunter, wartet sicher ein Brief vom Finanzamt. Ist Kohle auf dem Konto, ist die Seele leer. Oder das Klopapier.

Irgendwas jedenfalls: ist IMMER!

Wenn ich glückliche Menschen sehe – und mich zähle ich auch dazu – weiß ich, dass bei jedem etwas nicht rund läuft. Keiner ist vom Chaos des Lebens ausgenommen. Jeder hat seinen Rucksack zu tragen, in dem Leid und Glück und Sorgen und Liebe stecken. Der eine Rucksack ist schwerer, der andere leichter.

Wenn ich meinen abnehme und hineinschaue, sehe ich: eine Glasscherbe, auf die ich als Kind mal getreten bin; eine Mahnung vom Finanzamt, die letzte Woche ins Haus geflattert ist; ein Bild meiner Freundin und mir, die mich seit 33 Jahren begleitet und auf dem Bild tragen wir kurze Hosen und Pferdeschwänze; eine kleine Dose mit Flüssigkeit und einer Nadel drin, die meiner Tochter, aus der Kniescheibe operiert wurde; ein Stück Blech als Metapher für einen Autounfall; eine Feder der Taube, die gegen mein Fenster geflogen ist und die dabei ihr Leben ließ. Tief unten im Rucksack sehe ich irrationale Ängste und reale Sorgen. Dazwischen noch mehr Glück und Sonnenstrahlen. Und jetzt lege ich noch etwas dazu: ein Stück meines Herzens. Stellt es euch wie eine zerbrochene Muschel vor. Stellt es euch klein aber schwer vor. Die Riemen schnüren jetzt meine Schultern ein.

„Letztendlich sind wir alle nur kaputte Existenzen“, war mein erster Satz. Letztendlich stimmt das nicht. Letztendlich ist nur jeder: die Summe seiner Erfahrungen und die Sichtweise darauf. Ob so eine Glasscherbe im Fuß etwas ist, was man nie wieder erleben will oder ob man sagt „Passiert halt. Gehört dazu.“ ist entscheidend, ob man „kaputt gegangen ist“ – oder eben nicht.

Gerade bin ich kaputt. Aber im Rucksack ist auch noch etwas anderes: Holzleim (weil der Geruch mich an meine Kindheit erinnert) und ein Pflaster und Ostseesand. Ich lasse ihn durch meine Finger rieseln und schmecke Salzwasser auf meinen Lippen und weiß, dass man so ein Muschel-Herz bestimmt reparieren kann. Nicht heute. Nicht morgen. Aber vielleicht dann, wenn ich wieder bereit bin, zu reden. Wenn ich mich nicht mehr so zerbrochen fühle und der Rucksack mich nicht mehr zu Boden zieht, weil ich wieder Kraft getankt habe.

Dann hole ich das kaputte Stück der Muschel hervor. Und den Holzleim und das Pflaster und repariere mein Herz. Und danach rufe ich diesen Mann an, den ich liebe und sage: „Verdammt noch mal – was sollte das?“

© So_Yellow_ 2020-06-27

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