von Emo Lenz
In unserem Dorf gab es keinen Nachtwächter mehr. Man regelte die Situation aber so, dass jeder Haushalt für diesen Dienst eingeteilt wurde. Dazu gab man täglich einen eisernen Stock und ein Kontrollbüchlein von Haus zu Haus weiter. Jede Nacht musste also jemand Anderer die Runden im Dorf drehen. Ab 23 Uhr bis 4 Uhr war zu jeder vollen Stunde ein Rundgang zu machen.
Mein Vater war dran. Er war aber nicht gut beinand. Da hab ich Büblein mich angeboten, für ihn einzuspringen. Meinem Vater muss es wirklich schlecht gegangen sein, dass er da zustimmte. Und als ich dann nach Mitternacht auf meiner Runde war und zum „Platzbrunnen“ kam, hörte ich ein seltsames Geräusch wie von Pickel und Schaufel. Ich erschrak zu Tode und blieb stehen. Der Mond schien hell und warf Schatten auf die Rückseite der weißen Kirchenmauer. Und da bewegte sich etwas! Ich sah in übermenschlicher Größe eine Gestalt, die tatsächlich mit einem Pickel hantierte. Kalt lief es mir über den Rücken. War es ein Geist? War es gar der Leibhaftige selbst, der sich im Friedhof um die Gräber herumtrieb und den Verstorbenen womöglich keine Ruhe gönnte. Schnell erinnerte ich mich an manche Geistergeschichte, die ich schon gehört hatte. Unsere Generation wurde ja noch mit Angst erzogen. Angst war ein beliebtes Erziehungsmittel.
„Losnet auf und lasst euch sagen, die Uhr am Turm hat eins geschlagen – ein Uhr. Drum rufet s an den Herren Christ, dass Feuer und Licht versichert ist!“ Ganz laut rief ich den Nachtwächterspruch in die Nacht hinaus. Ich wollte dem Gespenst signalisieren, dass ich mich nicht fürchte. Dann rannte ich – so schnell ich konnte – nach Hause. Alle schliefen. Ich musste meine letzten Mutreserven aktivieren. Drei Runden hatte ich ja noch vor mir. Mein Versprechen wollte ich ja einhalten. Um den Friedhof hab ich allerdings einen weiten Bogen gemacht.
Erst in der Früh konnte ich meiner Mutter von meinem „Teufelserlebnis“ erzählen. Und sie klärte mich auf, dass das nicht der Teufel war, sondern ein armer Bauer vom Dorf. Seine Frau habe nämlich eine Totgeburt gehabt. Und die hätte er müssen – weil man das Kind nicht mehr taufen habe können – bei Nacht und Nebel verscharren. Sein Kind wollte er aber doch in geweihte Erde betten. Der Arme!
Durch meinen lauten Nachtwächterspruch hatte ich unseren Pfarrer aus dem Schlaf gerissen. Dieser meinte dann in der Kirche, „Fratzen“ sollte man nicht als Nachtwächter schicken!
Ich habe dieses fürchterliche Erlebnis viele Jahre später jemandem aus dem Dorf erzählt. Dieser aber hat die Geschichte schon gekannt, obwohl er damals noch nicht auf der Welt war. Und er fügte hinzu, der vermeintliche Geist sei sein eigener Vater gewesen. Er bestätigte, dass dieser sein totgeborenes Kind – es sei ein Mädchen gewesen – in einen Schuhkarton packte und heimlich in der Nacht an der Außenmauer der Kirche hinter der Sakristei verscharrte. Er selber sei der jüngere Bruder. Wir haben uns dann über diese herzzerreißende Geschichte gemeinsam entsetzt.
© Emo Lenz 2021-02-17