Heute für Euch systemrelevant. Und morgen?

Sonja Schiff

von Sonja Schiff

Story

Systemrelevant.

Als dieses wird meine Berufsgruppe, ich bin Pflegefachkraft, jetzt von Euch bezeichnet. Übersetzt bedeutet das, mein Beruf wird nun plötzlich als wichtig erkannt, als wesentlich für die Allgemeinheit, als unverzichtbar für unsere Gesellschaft.

Diese Erkenntnis kam nicht etwa von selbst. Das hätten wir Pflegepersonen uns von Euch über viele Jahre gewünscht. Nein, es bedurfte eines lästigen Virus. Erst die Angst vor Corona machte Euch bewusst, dass Ihr ohne Supermarktkassiererinnen, ohne Paketzusteller, ohne Landwirte und eben auch ohne Pflegepersonen, um nur einige Berufsgruppen zu nennen, so ziemlich ohne Versorgung dasteht. Dass es Berufsgruppen gibt, die ihre eigene Gesundheit riskieren, ihren verdammten Job gut machen trotz Gefahr, zu Eurem Wohle.

Deshalb jetzt plötzlich das Prädikat „systemrelevant“.

Doch wie lange wird Eure Erkenntnis anhalten? Werdet Ihr Euch für uns einsetzen in Zukunft? Wird sich für uns systemrelevanten Berufsgruppen etwas verändern? Die Rahmenbedingungen etwa? Die Entlohnung? Das Ansehen? Oder wird es nach Corona sein, wie vor Corona?

Vor ein paar Jahren feierte eine bekannte Supermarktkette ein rundes Jubiläum. Ein lieber Freund wurde damals beauftragt das Jubiläumsfest zu organisieren. Auf Wunsch der Auftraggeberin, so erzählte er mir kürzlich, musste er eine angesagte Sängerin engagiert. Kostenpunkt 200.000 Euro. Dauer des Auftritts: Eine Stunde.

Dieser Tage muss ich an der Supermarktkassa, wenn ich in die müden Augen der vor dem Corona-Virus schlecht geschützten Kassiererin blicke, immer wieder an diese horrende Summe denken. 200.000 Euro für eine Stunde Singen! Was würde wohl die ausgelaugte, derzeit permanent ihre Gesundheit riskierende Supermarktkassiererin dazu sagen?

Spartenwechsel. Fußball! Alaba, Ribery, Neymar, Coutinho und wie sie alle heißen. Was verdienen diese „Stars“? Christian Ronaldo soll 21 Millionen Euro pro Jahr bekommen, das sind groteske 2 Millionen pro Monat oder, anders gesagt, satte 2400 Euro pro Stunde. Pro Stunde! Gut, der ist sowas wie ein Fußballgott. Trotzdem und ohne sein Talent schmälern zu wollen, er läuft einfach nur einem Ball hinterher! Dafür bekommt er 21 Millionen pro Jahr und häuft Reichtum an, der jenseits jeder Vorstellungskraft liegt?

Dieser Tage machen mich solche Geldsummen einfach unfassbar wütend. Warum bekommen die einen, für ein, gesellschaftlich betrachtet, unerhebliches Talent so viel Geld, mehr als sie jemals im Leben ausgeben können? Während jene, die wirklich Wesentliches für die Gesellschaft leisten, permanent unterbezahlt sind? Warum werden Sänger, Fußballer, Schauspieler, Formel-Eins-Fahrer etc. umjubelt, während Pflegepersonen, Reinigungskräfte, Supermarktkassiererinnen, Paketzusteller oder Polizisten ständig um Wertschätzung und faire Bezahlung rudern müssen? Warum?

Systemrelevant also. Jetzt. Heute.

Ihr nennt uns sogar Helden.

Und morgen?

© Sonja Schiff 2020-04-04

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