von Daniela Neuwirth
„Was auch das heißen soll – wahrscheinlich ein anderes Wort für sprechen, erwähnen oder Laut geben. Ach ne, das war wieder woanders her, nämlich vom Hundesportverein“, lacht sie innerlich, denn sie sitzt gerade noch rechtzeitig auf ihrem Schreibtischsessel und hat tippt einen Aktenvermerk ab. Anwalt X hat sich wieder mal ein neues Wort einfallen lassen, denn mit dem „Diesseits“, wo sie immer den Sensenmann vor Augen hat, wie er im Jenseits dann den Brief öffnet von der anderen Seite des Weltenbaums.
„Nun, das ist natürlich auch gut – Tenorieren!” Sie lässt das Wort mal so richtig klingen. Ein bisschen, Pavarotti, ein bisschen Carreras, ein bisschen Callas und zum drüberstreuen Bocelli fällt ihr dazu nur ein und schon sitzt sie wieder mit 18 im Flugzeug mit Luciano und freut sich mit ihm darüber, wie schön das Leben in der 1. Klasse auf dem Weg nach Rom sein kann, unter ihnen die Lichter der faszinierenden Millionenstadt.
Heute ist sie ja erst mal überhaupt froh, dass sie hier ankam, denn das Wetter ist sommerlich warm – so richtig warm, eigentlich schon Badewetter, dass ihr Fahrzeug mit ihr direkt an der Kanzlei vorbeirauschte, Richtung Sonne, Meer und Kliff. Erst in Archsum, als sie sich gerade so richtig darauf freute, endlich aus den wetterunpassenden Stiefeletten herauszukommen und durch das hellgrüne Gras nahe der rund 250 Stück großen Schafherde (sie hat versucht, sie zu zählen, doch bewegen sich die Tiere) zu laufen, um die Füße, wenn schon nicht in Sand und Wasser gleich mal mit rauer Erde und kitzelnden Grashalm-Massage zu verwöhnen, bemerkte sie, dass sie davon noch 93 Minuten Arbeit trennen.
Schnell umgedreht, gar nicht auf die Uhr am Armaturenbrett geachtet, den Touristenverkehr ignoriert und die Schubkraft des 720-PS-Motors ihres Big Boss visualisiert, geht es die Kilometer wieder zurück und es war doch noch geschafft, einzuloggen, bevor die Welt der Akten untergeht.
Immer noch überhitzt in den Stiefeletten, beneidet sie alle sommerlich in Shorts, Polo, Flip-Flops oder Loafers gekleideten Menschen, Damen haben noch vorsichtshalber die feinen Stoffwesten um die Hüften gebunden, die sich hier eingefunden haben und auf dem Weg zum oder vom Strand sind.
Als Belohnung dafür, gab es das neue Wort mit Wortstamm ›Tenor‹ und schon ist sie wieder bei dem Film über den Steinzeitmenschen in seinen Höhlen, die es noch nicht so mit dem kopflastig-sprachlichen, verbalen Energieauswurf hatten und sich auf Grundlaute direkt aus dem Herzen beschränkt hielten.
Es war nicht nötig, sich geistig zu duellieren, denn sie hatten ja sich selbst, ihre Frau, ihre Eltern, ihre Kinder – also alles, was wichtig ist – Speere, Steine und ihre Körperkraft. Irgendwann im Laufe der Zeit, als sich die Menschheit nicht mehr nur noch auf das Überleben konzentrieren musste, dachte sich einer, nun wollen wir uns nicht mehr nur noch in Gruppen in Höhlen verstecken, sondern mitsammen aus- und uns näherkommen, knipste das Großhirn an und sprach.
© Daniela Neuwirth 2021-06-04