Himmels-Christbaum

Alena Riha

von Alena Riha

Story
Tirol 1945

Innsbruck, April 1945

Der kleine Wolf war noch ganz benommen gewesen, als er aufgeweckt wurde. Mit müden Augen schaute er ins angstverzerrte Gesicht seiner Mutter. Im Hintergrund konnte er den Tumult im Haus vernehmen. Seinen ebenfalls erwachten, kleinen Bruder hielt die Hausverwalterin im Arm und rannte schnell aus dem Zimmer. „Komm, Wolf, wir müssen in die Höhle“, forderte ihn seine Mutter auf. Da er bereits zu schwer zu tragen war für die zierliche Frau, nahm sie ihn bei der Hand. In die Höhle mussten sie in letzter Zeit wieder öfter. Die Bäuerin und Hausverwalterin des Hofes, auf dem sie lebten, hatte Wolf und seinem Bruder erklärt, dass sie Verstecken spielten.

So mussten sie es schaffen über den kurzen Teil der Wiese zu rennen, ohne von den Fliegern entdeckt zu werden, um sich dort in der Höhle zu verstecken. Dort war es eng, stickig und dunkel. Wolf hasste es. Aber sie würden gewinnen, hatte die Bäuerin ihnen versichert, wenn sie sich lange genug vor den Fliegern verschanzen konnten. Sobald dann die Explosionen, Sirenen und das Surren der Flieger versiegt waren, durften sie die Höhle verlassen. Dann hatten sie gewonnen. Wolf war stolz auf sich, denn er hatte bisher jedes Mal gewonnen.

Als der Junge noch schlaftrunken zum Himmel blickte, erkannte er erst, dass es noch Nacht war. Bisher hatten sie Verstecken nur unter Tage gespielt. Seine Mutter zerrte an seinem Arm, denn für einen Moment hatten die wunderschönen Leuchtkugeln am Nachthimmel die Aufmerksamkeit von Wolf vereinnahmt. Plötzlich hörte er das altbekannte Surren der Flieger, konnte jedoch keine sehen. Austricksen wollen sie uns dieses Mal, dachte sich der Junge und fragte sich zugleich, ob es denn möglich wäre, dass das Surren von etwas anderem stammte.

Während alle Hofbewohner versuchten sich rasch einen Platz in der Höhle zu sichern, ergriff Wolf im Chaos die Gelegenheit sich davonzustehlen. Er ging zum Hang, von wo er aus eine gute Aussicht ins Tal hatte. Wo die Stadt lag, über welcher die schönen Lichtkugeln hingen. Im Schein dieser konnte er sie schließlich erkennen. Die Flieger. Vor Angst von diesen entdeckt zu werden, wollte Wolf sich umdrehen und in die Höhle eilen. Doch er hielt mit großen Augen inne, als er den wunderschönen Christbaum erblickte, der vom Himmel bis zur Erde reichte. Fasziniert trat er näher zum Abhang, denn er wollte das Lichtspektakel besser beobachten.

Plötzlich wurde er jedoch gepackt und vom Boden aufgehoben. Es war der Großvater, der Wolf fest an sich drückend, zur Höhle lief. Nachdem sie die schwere Türe hinter sich verschlossen hatten und seine Mutter vor Erleichterung ihren Sohn sicher zu wissen, beinahe ohnmächtig wurde, knallte es. Immer und immer wieder. Explosionen. Lauter und gewaltiger als Wolf sie bisher gehört hatte. Mit seinen Händen hielt er sich die Ohren zu und drückte sich fest an seinen Großvater, der schützend seine Arme um ihn gelegt hatte. Die Angst breitete sich in seinem Körper aus und der Junge hoffte in seiner Starre, dass er und seine Familie sich irgendwann nicht mehr vor den Fliegern verstecken müssen.

© Alena Riha 2023-06-20

Genres
Romane & Erzählungen, Biografien
Stimmung
Abenteuerlich, Herausfordernd, Hoffnungsvoll, Angespannt, Dark
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