Hinter dem Gartenzaun

Sondes

von Sondes

Story

Ich kannte ihn vorher kaum. Wenn ich etwas über ihn wusste, dann waren es zwei Dinge: Er arbeitete oft in seinem Garten und hisste dort jahrelang eine Deutschlandflagge. Doch eines Tages hörte er mit einem der beiden Dinge auf.

Lange war die Deutschlandflagge nicht mehr zu sehen, und ich fragte mich immer wieder, warum sie nach so vielen Jahren plötzlich nicht mehr da war. Irgendwann gewann meine Neugier die Oberhand, und ich beschloss, ihn spontan darauf anzusprechen, als ich ihn wieder in seinem Garten sah.

Es war ungewöhnlich warm und sonnig an dem Oktobertag, sodass er mit der Hand seine Augen vor der Sonne abschirmte. Kurzgeschnittene Grashalme klebten an seinen vom Alter gezeichneten Händen und seiner verschwitzten Stirn. Es hatte etwas Idyllisches.

„Warum die Flagge nicht mehr gehisst ist“, wiederholte ich meine Frage, als er sie beim ersten Mal akustisch nicht verstanden hatte. Sichtlich überrascht, lachte er kurz auf und erklärte dann herzlich: „Ei, weil se kaputt is“. Ich hatte ihn zuvor nie sprechen hören, geschweige denn in einem hessischen Dialekt. Wir unterhielten uns ein wenig, ich gab mir Mühe, ihn zu verstehen.

Von dem Tag an blieb ich immer stehen, wenn ich ihn in seinem Garten entdeckte, und begann ein Gespräch. Ab einem gewissen Zeitpunkt verstand ich ihn auch besser. Unsere Unterhaltungen überschritten aber weder den Zaun, der sein Grundstück vom Bürgersteig trennte, noch die Fragen wie „Wie geht es Ihnen?“. Seine Antwort blieb auch immer die gleiche: „Man wird alt“ und das darauffolgende schmerzverzerrte Grinsen. Schließlich erfuhr ich von ihm, dass er bereits 80 Jahre alt war. Ich fand ihn häufiger auf der Holzbank sitzend vor.

Es dauerte fast ein ganzes Jahr, bis ich wieder eine Flagge am Mast wehen sah. Sie war neu, mit gesättigten Farben und den Falten, die sie noch hatte, weil sie wahrscheinlich lange zusammengefaltet gewesen war. Ab und zu würde sie aber verschwinden. „Wegen der Stürme“, erklärte er mir.

Einmal deutete ich während einer unserer letzten Gespräche auf ihn und fragte, nachdem ich wieder von meinem heutigen Tag erzählt hatte: „Und was machen Sie so zurzeit?“. In der Erwartung, dass er mir etwas über seinen Garten erzählen würde, kam jedoch ein Seufzen von ihm, gefolgt von der Nachricht, dass seine Frau an Parkinson erkrankt und kürzlich beim Wäscheaufhängen umgekippt sei. Nun müsse er alles übernehmen. „Aber zusammen, in guten wie in schlechten Zeiten“, wie er abschließend meinte.

Ich musste an dem Tag lange nachdenken. Für mich war er immer nur der Mann mit dem Garten und der Flagge gewesen. Als ich „Parkinson Symptome“ in die Suchmaschine eingab und mir die Ergebnisse durchlas, musste ich schlucken.

Am nächsten Tag kaufte ich Käsekuchen und klingelte.

© Sondes 2024-09-26

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Reflektierend