Hirnlos

Anita Zöhrer

von Anita Zöhrer

Story

Letzte Woche besuchte ich eine Freundin und als ich dann mit dem Fahrrad nach Hause fuhr, lief mir plötzlich ein Huhn vors Rad. Ich bremste – in meinem Schrecken mit der Vorderbremse- und schon flog ich ĂŒber das Lenkrad quer durch die Luft. Patsch – mit voller Wucht donnerte ich mit meinem Kopf auf den Asphalt und sogleich schlugen die Hirnzellen in meinem SchĂ€del Alarm. IrrtĂŒmlicherweise glaubten sie, es wĂ€re gerade ein Anschlag auf sie verĂŒbt worden, vor lauter Angst machte sich mein Hirn schnell aus dem Staub. Aus meinen Ohren, aus meiner Nase und aus meinem Mund – ĂŒberall floss es heraus und ehe ich etwas unternehmen konnte, war es auch schon in einem Erdloch neben der Straße verschwunden.

Ich verstĂ€ndigte die Rettung, doch gegen die gĂ€hnende Leere in meinem SchĂ€del war sogar sie machtlos, anschließend ging ich zur Polizei, um eine Vermisstenanzeige zu erstatten.

Schon wieder eine Hirnlose!Ich traute mich, zu wetten, dass die Polizisten auf der Wache schon seit einer Ewigkeit nicht mehr so sehr gelacht haben wie an jenem Tag. Weil sie mich somit nicht ernst nahmen, begab ich mich selbst auf die Suche.

Hirn! Hirn! Wo bist du?Ich hoffte, mein Gehirn dort wiederzufinden, wo es mir abhanden gekommen war, suchte die ganze Gegend nach ihm ab, doch ohne Erfolg. Alle Leute, die auf der Straße entlang kamen, sahen mich an, als wĂ€re ich nicht mehr ganz dicht. Leider war ich es ja auch nicht, wĂ€re ich es gewesen, hĂ€tte ich nun diese Schwierigkeiten nicht gehabt.

Verzweifelt begab ich mich schließlich in die nĂ€chste Kirche, um Gott dort darum zu bitten, mir mein Gehirn zurĂŒckzubringen. Wenn er es mir schon ein Mal gegeben hatte, wĂŒrde er es bestimmt auch noch ein zweites Mal tun – ich glaubte ganz fest daran. In einer Bank kniend sprach ich also leise ein Gebet, als sich plötzlich ĂŒber mir der Himmel auftat und ich von Engeln ins ewige Paradies empor gehoben wurde. Wie wunderbar es dort war! All die Blumen, Berge, Wiesen und Seen und da – kreuz und quer an einem Ufer verstreut – dutzende Gehirne! Ich war also nicht die Einzige, deren Gehirn das Weite gesucht hatte, ein Engel klĂ€rte mich auf, dass ich jedoch Eine der wenigen Hohlköpfe sei, die es wiederhaben wollten. Die meisten merkten ihre Hirnlosigkeit erst gar nicht und viele waren zu stolz, um sie sich, geschweige denn anderen einzugestehen.

Der Engel fĂŒhrte mich also zu meinem Gehirn. Vor Freude, mich zu sehen, hĂŒpfte es vor mir auf und ab. Es hatte mich vermisst und konnte es kaum noch erwarten, wieder dorthin zurĂŒckzukehren, wo es hingehörte. Behutsam nahm es der Engel in seine HĂ€nde und hob es mir ĂŒber meinen Kopf, deutlich spĂŒrte ich, wie sich mein SchĂ€del wieder fĂŒllte und ich dankte Gott fĂŒr dieses Wunder. Nun waren wir wieder vereint – wir beide – mein Gehirn und ich.

© Anita Zöhrer 2021-03-26

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