von Bettina Kilb
Viele Menschen müssen sich solche Kommentare anhören, weil sie trotz diagnostizierter schwerer Depression noch „funktionieren“. Weil sie trotzdem arbeiten gehen und ihren Alltag bewältigen. Warum setzen so viele Menschen „Es geht mir schlecht, ich bin depressiv“ mit „Ich bekomme nichts auf die Reihe“ gleich? Denn wenn man erfolgreich ist, kann es einem nicht schlecht gehen? Ja, es gibt Depressionen, mit denen nichts mehr möglich ist. Genauso gibt es aber auch die „hochfunktionale Depression“, in der Betroffene trotz großem Leid ihren Alltag bewältigen. Ist der Leidensdruck dadurch geringer? Nein. Meist ist er sogar höher, weil Betroffene in ihrem Leid nicht gesehen werden und kaum Verständnis erfahren. So oft musste ich mir anhören, dass ich nicht krank wirke. Das ist okay, ich bin froh, wenn ich nicht krank wirke, aber es schmälert meinen Leidensdruck nicht. Es ist trotzdem schlimm. So schlimm, dass ich mir noch öfter wünsche, nicht mehr am Leben zu sein, als zu leben.
Manchmal fühlt es sich an, als lebe ich zwei Leben. Mein Leben im Funktionsmodus: Arbeiten gehen und Leistung erbringen sowie mein Privatleben, in dem subjektiv betrachtet nichts zu laufen scheint. Ein Tagesablauf könnte dann beispielsweise so lauten: Ich habe in der Nacht mal wieder nur drei Stunden geschlafen und quäle mich übermüdet zur Arbeit. Auf der Arbeit schaltet sich mein Funktionsmodus an und mein Lächeln sitzt. Alle sind zufrieden mit mir, ich lache und erledige zuverlässig meine Aufgaben. Sobald ich dann allein bin, fällt dieser Schutzmechanismus. In meinem Funktionsmodus merke ich zwar immer noch diese Schwere und Müdigkeit, die ich täglich mit mir herumtrage, aber meine Gefühle sind wie abgespalten. Sobald ich Zuhause bin, kommen die Gefühle verstärkt zurück und erdrücken mich, sodass ich zu fast nichts mehr in der Lage bin. Dann zeigt sich das klassische Bild der Depression. Ich ziehe mich zurück, mir fällt es schwer, in den Kontakt mit anderen Menschen zu treten und ich schaffe es nicht, gut für mich zu sorgen. Da ich all meine Energie für das Arbeiten aufgebraucht habe, fehlt mir die Energie für meine Hobbys oder Freunde.
Was bedeutet es also für mich, unter einer hochfunktionalen Depression zu leiden? Es bedeutet, dass kaum einer mein Leid sieht und vieles für selbstverständlich gehalten wird, was es nicht ist. Dass ich bspw. als eine der Besten ein Einser-Examen absolviert habe, obwohl es mir während der Ausbildung unendlich schlecht ging, ich währenddessen sogar kurzzeitig auf der Intensivstation lag und einen Klinikaufenthalt hatte. Auch wenn ich es schaffe, meinen Alltag erfolgreich zu bewältigen, ist es für mich ein großer Kraftakt. Kraft und Energie, die ich eigentlich gar nicht habe. Das Leid ist nicht geringer als bei einer „sichtbaren“ Depression, in der Betroffene ihren Alltag nicht mehr bewältigen können. Denn sobald ich nicht in meinem Funktionsmodus bin, erfülle ich alle Kriterien einer schweren Depression und dieser Wechsel zwischen Funktionieren und Dekompensieren (hier gleichgesetzt mit Zusammenbrechen) ist unglaublich anstrengend. Die Gefahr der hochfunktionalen Depression ist, dass sie oft unterschätzt und nicht ernst genommen wird. Menschen suchen sich trotz großem Leidensdruck weniger Hilfe und bleiben allein, was bei großer Not in Lebensmüdigkeit und schließlich in einem Suizid enden kann.
© Bettina Kilb 2023-07-30