Obwohl die Einladung nur mir gilt, fahren wir gemeinsam nach Paris. Meine Freundin bietet meinem Freund ihre Wohnung an während ich sie zu ihrer Hochzeit an die Atlantikküste begleite. So ist ihr Plan.
Als wir uns zwei Tage später in der Rue de Tocqueville voneinander verabschieden, fühle ich mich ganz elend. Marianne muss es gespürt haben. An der zweiten Ampel schreit sie schließlich „Stop“. Ihr Mann fährt rechts ran. „Ist es nicht blöd, ihn hier allein zurückzulassen?“, ruft sie und läuft los. Ich folge ihr. Gemeinsam eilen wir bis in den fünften Stock und klingeln Sturm. Sein Koffer steht noch unberührt im Flur. Er zögert nicht. Kurze Zeit später steigen wir in das wartende Auto und fahren zu viert an den Atlantik.
Während das Brautpaar im großväterlichen Haus der Familie erwartet wird beziehen wir ein einfaches Hotel. Wir stellen uns auf einen gemütlichen Abend zu zweit ein, bummeln durch die Gegend am Hafen und entscheiden uns für ein Restaurant mit Blick auf das bunte Treiben der ein- und ausfahrenden Boote. An einer langen Tafel sitzt eine größere Runde fröhlicher Menschen. Sie sind laut und lachen viel. Ist der eine von ihnen nicht Jacques, ein Freund von Mariannes Familie? Unsere Blicke treffen sich. Er erkennt mich, springt auf und kommt zu uns. Noch ehe wir uns versehen werden wir von der ganzen Truppe geküsst und willkommen geheißen.
Die Braut trägt einen hellblauen Hosenanzug. Noch bevor wir das Standesamt verlassen, trinken wir den ersten Aperitif. In einem sehr vornehmen Restaurant mit Blick auf das Meer nehmen wir Platz. Ein weiterer Aperitif wird gereicht. Ich bräuchte eine Grundlage dafür. Der Alkohol macht sich bemerkbar. Auf dem Weg zum Waschraum suche ich den Lichtschalter. Ich finde ihn nicht. Weil ich die Stufe hinter der Tür nicht sehe, trete ich ins Leere. Dabei verliere ich den Halt und fliege förmlich durch den Raum, drehe mich und lande mit dem Hinterkopf auf dem Waschbecken. Auf dem Boden landend wird mir schlecht. Ich schaffe es noch auf die Toilette, dann wird mir schwarz vor Augen.
Irgendwann dringt eine Stimme an mein Ohr. Es ist Marianne. Sie klingt besorgt. Kurze Zeit später flößt mir eine dicke Frau eine Mischung aus Zucker und Cognac ein. Meine Lebensgeister kehren langsam zurück. Ich bin leichenblass und völlig benommen. Mehrere Menschen tragen mich an der langen Hochzeitstafel entlang und betten mich auf eine Campingliege, die am Ende der Sitzreihe auf mich wartet. Mindestens zwei Gänge des Hochzeitsmahls entgehen mir, bis ich leicht geschwächt wieder Platz nehme. Zu dem Zeitpunkt stößt mein Freund dazu. Mariannes Familie hatte es so entschieden. Ich bin froh, dass er mich halbwegs ansprechbar vorfindet. Er kann sich ganz auf die Gastgeber einlassen und hinterlässt bei allen einen guten Eindruck.
© Dagmar Lücke-Neumann 2022-09-15